2. Kapitel: Milieu

Frank Wedekind/Hugo Ball/Carl Zuckmayer

Frank Wedekind hat in seinem Essay "Zirkusgedanken" die Trapezkunst von der Drahtseilkunst unterschieden, und mit verschiedenen Arten idealistischer Lebensweisheit gleichgesetzt. Diese Differenzierung taucht in seinen dramatischen Werken nicht mehr auf. Frühe Stücke Wedekinds spielen im Zirkusmilieu, beziehungsweise waren eigens für Aufführungen im Zirkus gedacht, wie die Pantomimen "Die Flöhe oder der Schmerzenstanz", "Der Mückenprinz", "Die Kaiserin von Neufundland" und "Bethel". (1) Mit den Gattungen der Pantomime und des Balletts entsprach Wedekind den Programmen der Pariser Zirkus- und Varietéhäuser, wie er sie während seinem Parisaufenthalt 1892 bis 1894 (2)  kennenlernte:

 

"(...) the pantomime had become very much a vogue in the circus, had become, in fact, one of the chief reasons for the circus' widespread success. (...) Wedekind was sufficiently convinced of the pantomime's potential and hopeful that his career could benefit from its popularity (...)" (3)
Untersucht wird hier aber nur das frühe, für eine Theaterbühne bestimmte Drama "Fritz Schwigerling" und die späteren "Lulu-Dramen" ("Erdgeist" und "Die Büchse der Pandora"). Während der Zirkusaspekt in "Fritz Schwigerling" von der komödienhaften Handlung an den Rand gedrängt wird, erscheint die Spannung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und dem Zirkusmädchen Lulu weitaus pointierter. Diese Spannung entlädt sich am Ende im Mord an Lulu.
In Hugo Balls Varieté-Roman "Flametti oder vom Dandysmus der Armen" wird der antibürgerliche Impetus der Artisten, nämlich die gesellschaftliche Randexistenz in eine Form lebensnaher Kunst zu überführen, als gescheiterter Versuch entlarvt. Im Kampf um das Überleben des Ensembles erweisen sich Verhaltensmuster der Künstler denen des Kleinbürgertums als gleich. Der Dandysmus der Armen kann sich gar nicht als eigenständiger Lebensstil entfalten, weil der nackte Kampf um die Existenz alle Ausschweifungen verbietet. Flamettis romantische Flucht in die Indianerwelt muß scheitern, weil sie keine echte Alternative ist.
Die Differenz von Artistentum und bürgerlicher Realität versucht Carl Zuckmayer zu überbrücken, indem er mit bekannten Traditionsmustern das Zirkusmilieu der bürgerlichen Welt annähert. Zirkus ist für Zuckmayer regelrecht Kunst. In seinen Erinnerungen an die Auftritte des alten Seiltänzers "Papa Knie" schreibt er:

 

"(...) all das war so atemberaubend, wie es jede echte Kunstproduktion sein sollte - und diese war echt bis zur Gefahr des Hals- und Beinbruchs, (...)" (4) 

 

Frank Wedekind: "Fritz Schwigerling" und "Lulu"

 

In Fritz Schwigerlings Geschichte, die übrigens ihre literarische Vorlage in Signor Dominos Buch "Der Zirkus und die Zirkuskunst" hat, wie Artur Kutscher nachgewiesen hat (5) , wird das Ideal einer körperlichen Kunst dem Ideal geistiger Bildung gegenübergestellt. Dieser Widerspruch wird im Drama allerdings nicht problematisiert, sondern löst sich in komödienhaften Szenen auf, wie zum Beispiel im zweiten Aufzug, siebenter Auftritt:

 

"Schwigerling
Ich befinde mich hier in meiner Eigenschaft als Professor für moderne Philologie ...

 

Katharina
Ich glaubte, sie wären Kunstreiter?

 

Schwigerling
Von ganzer Seele, Komtesse!

 

Katharina
Es muß nicht leicht sein, sich bei Ihnen zu orientieren.

 

Schwigerling
Orientiert bin ich, Komtesse ...

 

Katharina
Das freut mich.

 

Schwigerling
Es hat mich Kopfzerbrechen genug gekostet ..." (6)
Während Katharina den Widerspruch, daß da ein Kunstreiter als Hauslehrer engagiert wurde, leichtfertig hinnimmt, spricht Schwigerling über die Schwierigkeit, den vom Fürsten geforderten Liebestrank zuzubereiten. Doch er hat bereits eine Lösung gefunden: Er wird dem Fürsten einen Scheintrank bereiten und die Wirkungslosigkeit dieses Gebräus der Tatsache anlasten, daß der Fürst bei der Einnahme des Tranks nicht wie vorgeschrieben nicht an einen Bären dachte. Die Rettung aus seiner prekären Situation wird er nicht seinen akrobatischen Leistungen verdanken, sondern vielmehr seines rhetorischen Einflusses auf den Fürsten. Aufgrund der geschickten Ausnützung der Umstände ("Orientiert bin ich, Komtesse ...") und der geschickten verbalen Einkleidung seiner Zeremonie, kann er dem Fürsten glaubhaft machen, er sei wirklich in der Lage, einen Zaubertrank herzustellen. Schwigerling nutzt hier geschickt die Verfahrensweisen eines jeden Zauberers.

 

"Die Quintessenz jedes Zauberkunststückes ist der begleitende Vortrag. Er untermalt die magische Handlung, hebt die Darbietung und rundet sie ab - der Vortrag ist also für den Erfolg von ausschlaggebender Bedeutung." (7)

Dieser psychologische Aspekt scheint mir im Zusammenhang des Dramas mit der Zirkuswelt von größerer Bedeutung zu sein, wie die von Schwigerling geäußerte vitalistische Philosophie. Mit dem Hinweis auf Wedekinds Hochschätzung körperlicher Kunst wird dieses Drama meist vorschnell, mit dem Verweis auf Wedekinds eigene Worte, interpretiert, so beispielsweise auch von Klaus Völker:

 

"Zum Liebestrank merkt Wedekind an: 'Meine Begeisterung für den Zirkus, die mich Jahre hindurch beseelte, sollte in dem Stück zum Ausdruck gelangen. Eine Verteidigung und Rechtfertigung körperlicher Kunst gegenüber geistiger Kunst. Verteidigung des Persönlichen in der Kunst gegenüber Engherzigkeit, Schulmeisterei und Unnatur.' (...) Wedekinds Naturbegriff, seine Rechtfertigung körperlicher Kunst gegenüber geistiger Kunst, ist im Liebestrank ganz undialektisch aufgefaßt." (8)
Die Figuren des Stücks sind nicht nur undialektisch aufeinander bezogen, sondern in sich selbst gar nicht eindeutig. Der Fürst verlangt ja einerseits von Schwigerling, daß dieser seine Kinder ganz unkonventionell erzieht, erwartet aber eine Dressur mit der Peitsche, was Schwigerling ablehnt. Sogar im Zirkus sei man bei der Tierdressur von der Anwendung roher Gewalt abgekommen. Andererseits weiß Schwigerling auch von der gänzlich unromantischen Seite des Zirkuslebens. Die Fürstin selbst hat den Menschenhandel, den die Veranstalter mit ihr betrieben, erlebt. Ein amerikanischer Lebensversicherungsagent hat mit ihr "Millionen" verdient:

 

"Fürstin
Er hat mich behandelt, wie nie ein Sklavenhalter seine armseligen Opfer behandelt hat.
(...)
Als ich mir dann in Barnums Trapezen alle Rippen gebrochen, bildete er mich zur Bauchtänzerin aus." (9)
Und als sie zum Tanz nicht mehr geeignet erschien, beabsichtigte ihr wohl als Manager tätige "Freund", sie von Kopf bis Fuß tätowieren zu lassen, um sie als "eine Kriegsbeute der Indianer" zur Schau zu stellen. In dieser Situation kaufte sie Fürst Rogoschin frei. Klar wird an solchen Ausführungen, daß die Freiheit des Zirkuslebens andere Unfreiheiten mit sich bringt. Die Fürstin kann durchaus als Opfer dieser im Zirkus ästhetisierten Gewalt gesehen werden. Schwigerling steht auch der Zirkuseuphorie von Katharina skeptisch gegenüber:

 

"Schwigerling
Sie haben doch wohl keinen Begriff davon, welch furchtbare Enttäuschungen Ihnen unser Beruf bereiten kann." (10) Schwigerling neigt bestimmt nicht zur Glorifizierung des Zirkus, seine Bemerkungen, beispielsweise zur Elastizität als Grundlage optimaler Lebensführung, bleiben rein theoretischer Natur. Im Drama erübrigt sich jegliche akrobatische Einlage seitens Schwigerlings, es scheint sogar so zu sein, daß der Fürst dem Schwigerling an körperlicher Kraft mindestens ebenbürtig ist. Als der Fürst in Schwigerling einen früheren Liebhaber seiner Frau erkennt, kommt es wohl zu einem Ringkampf zwischen beiden, wobei es dann in der Regieanweisung heißt:

 

"Fürst wirft Schwigerling beiseite ..." (11) Schwigerling erweist sich im Drama lediglich als der Raffiniertere, der es versteht, dem Fürsten im wahren Sinne des Wortes einen Bären aufzubinden.
Die lebensphilosophischen Überlegungen, die Wedekind in seinem Essay "Zirkusgedanken" anstellt, strapazieren die circensische Realität ebenfalls sehr. Seine Idealismus-Differenzierung erscheint ihm selber als "vielleicht etwas sonderbare(n) Betrachtungen" (12) , obwohl er sie nicht als Ironie verstanden wissen will. Und er führt noch einen "Dr. phil. II. Klasse" ein, an dessen Ausführungen er dann seine eigenen Betrachtungen anknüpft. In der Kunst der Trapezkünstlerin sieht er einen abstrakt-erhabenen Idealismus versinnbildlicht, im Seiltanz hingegen einen real-praktischen Idealismus, dem er den Vorzug gibt. Begründet wird diese Lebensphilosophie damit, daß die Trapezkünstlerin es mit einem stabilen Gleichgewicht zu tun habe, was einer Doktrin abstrakter Ideale, die über dem Ich stehen, entspreche. Bei einem Zusammenbruch dieses Gleichgewichts, was die Zerstörung des Ideals bedeutet und als ein jederzeit möglicher Fall angesehen wird, ist ein tödlicher Sturz unausweichlich. Die Seiltänzerin hingegen habe es mit einem labilen, dafür aber unter ihr liegenden Gleichgewicht zu tun, was eher einer praktischen Lebenshaltung entspreche.
Diese Artisten-Allegorie findet aber keinen Eingang in die dramatischen oder literarischen Arbeiten Wedekinds. Solche Spekulationen sind der Zirkussphäre auch nicht angemessen. Die Welt des Zirkus erscheint in Wedekinds Stücken vielmehr als provokanter Gegenentwurf zur moralischen Borniertheit der bürgerlichen Gesellschaft. Vitalismus und Erotik erhalten im abgegrenzten Bereich des Zirkus einen zugestandenen Freiraum. Die Begegnung von Zirkusmenschen mit Exponenten bürgerlicher Gesinnung führt zu tragischen Konflikten, wie beispielsweise in den Lulu-Dramen.
Lulu, ein Kind des Artisten- und Zirkusmilieus,

 

"soll aufrütteln, demaskieren, Unsicherheit hervorrufen: 'Je fürchterlicher es den Menschen vor dir graut, um so größer stehst du in deinem Beruf da!!' interpretiert Dr. Schön ihren Tanz (S. 437). Und sein Sohn Alwa, dem Wedekind Reflexionen über das eigene Drama in den Mund legt, kommentiert die Rolle des 'schönen Tieres': 'Mir ist es genug, daß sich das Publikum in die wahnsinnigste Aufregung versetzt  sieht' (S. 429). Noch deutlicher umreißt Alwa in der 'Büchse der Pandora' die beabsichtigte Wirkung einer solchen Inkarnation der Lebenskraft: 'Wer sich diesen blühenden, schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig-weißen Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns. (S. 528)'" (13)Lulu verkörpert ein Gegenbild zum lebensfeindlichen Ideal des Bürgers und weckt dadurch gerade die Begierden. Sie ist aber keineswegs eine alternative Lösung, ihr Extrem endet im Untergang. Lulu verkörpert ein "Männertrauma" (14), als femme fatale und domestiziertes Raubtier. Wedekind decouvriert ein Spiel, das der Bürger mit einer scheinbaren Gefahr treibt, obwohl es diese Gefahr längst nicht mehr gibt. Gefährlich ist nicht Lulu selbst, sondern die Projektionen der sie begehrenden Männer.

 

"Diese verheerende Frau wird selbst als Opfer enden, erdolcht von Jack the Ripper: Sie vereinigt in sich beide Erscheinungsformen - aktiv und passiv - der imaginären, perversen Rolle, die der Zuschauer auf die Schauspielerin zu projizieren versucht ist." (15) Die kulturelle Legitimation dieser negativen Stigmatisierung des Weiblichen, verbunden mit einem Kult um den Männlichkeits-Begriff, stützt sich auf Nietzsche:

 

"Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel. Desshalb will er das Weib als das gefährlichste Spielzeug." (16)
Lulu entbehrt jeglicher bürgerlicher Identität, sie trägt keinen Familiennamen und selbst ihr Vorname scheint nicht verbindlich zu sein. Sie heißt auch Mignon, Nelly und Eva. Dieses äußere Zeichen der Ungebundenheit verweist gleichsam auf ihr inneres Gefühl der Unzugehörigkeit, was sie den Besitzansprüchen der Männer ausliefert.

 

"Frauen mit nur Vornamen sind irgendwie für die Öffentlichkeit da, sind, sei es als Star oder als Dienstmädchen, irgendwie Prostituierte; sie kommen gewöhnlich aus dem gesellschaftlichen Unten, ihre Herkunft und ihr Status sind nicht familial. All das macht sie einerseits zu Objekten männlicher Verfügung, andererseits aber ungebunden, mächtig, gefährlich (...)" (17)
Die Gefahr, die der Bürger im Zirkusmilieu sucht, ist eine inszenierte, eine scheinbare. Ihre Wirkung ist aber deshalb so stark, weil sie nicht als eine künstlich erzeugte, sondern als eine tatsächliche Gefahr empfunden wird. In den Lulu-Dramen gewinnt das Zirkusmilieu jene Doppelbödigkeit zurück, die in "Fritz Schwiegerling fehlt, weil das Stück sich in komödiantischer Manier über alle Probleme von Schein und Verwirrung hinwegsetzt.

 

Hugo Ball: "Flametti oder vom Dandysmus der Armen"

 

Rudinoff warf Wedekind vor, seinem Leben eine "Indianerromantik" angedichtet zu haben. In Balls Roman wird diese "Indianerromantik", wie sie das Zirkusmilieu umgibt, decouvriert. Nicht nur, daß Flametti mit seinem Varieté-Ensemble ein Indianer-Stück auf die Bühne bringt, "Indianer" stehen überhaupt als Metapher für die Klasse der Ausgestoßenen, für die erfolglosen Varieté-Künstler:

"Unterdrückt von der brutalen Gewalt der Eindringlinge müssen sich die Indianer verstecken in Urwald und Sumpf, zwischen Nattern und Schlangen. Das sind wir, liebe Leser, das sind wir, teure Freundin. Die Luft unseres stillen Quartiers wird mehr und mehr erfüllt von den Klagen der Opfer, die sich die Polizei herausgreift. Das Volk der Indianer geht dem Verfall entgegen." (18)

 

 Doch das Bild ist gebrochen, die verarmten Varieté-Künstler bringen noch nicht einmal dieses romantisch-verklärte Stück zustande. Anstatt im Milieu eine Form von Dandysmus zu leben, verwickeln sich die Ensemble-Mitglieder untereinander in Streitereien, geraten ins Moralisieren, tragen Eifersuchtsszenen aus und vereiteln somit letztlich das Gelingen der Aufführung. Die Zirkusartisten, die Flametti zusätzlich engagiert hat, bringen nur weitere Auseinandersetzungen in das Ensemble:

 

"Eine kleine Rivalität brach aus zwischen den Zirkusartisten und dem übrigen Teil des Ensembles, dem 'Bruch', wie die Zirkusleute alle Kollegen nannten, die nicht von Kindesbeinen auf beim Metier waren.
Die Zirkusleute pochten auf ihre Familie, Herkunft, Tradition. Sie waren exklusiv und sahen den 'Bruch' verächtlich an." (19)

Anstatt mit ihrer Kunst eine gesellschaftliche Opposi­tion zu errichten, kopieren die Varieté-Künstler die gleichen Konventionen, denen auch das gutsituierte Bürgertum folgt. Hinzu kommt die materielle Not, die jegliche Versuche des Aus- und Aufbruchs schon im Keim ersticken läßt. Ball, der durchaus Sympathie für dieses "Lumpenproletariat" hatte, wollte dennoch auch an dieser Subkultur Kritik üben:

 

"Ich wollte auf diese Weise das Lumpenproletariat der Erde treffen, uns schäbigen Kerle alle miteinander, die wir im entscheidenden Moment doch nur unserem Vorteil folgen." (20)
In den Ausgestoßenen, Artisten und Möchtegern-Dandys sieht Ball keine Wegbereiter eines Neuen, keinen wirkungsvollen Protest gegen die Gesellschaft. Manfred Steinbrenner faßt in seiner Arbeit über Ball dessen distanzierte Haltung zum Milieu, dem Ball ja selbst einige Zeit angehörte, wie folgt zusammen:


 
"Die Kritik des 'Flametti'-Romans im Maxim-Ensemble und an der Dada-Gruppe ist gleichsam Kritik der subkulturellen Normen, die sich 'dandystisch' weitgehend an denen der Gesamtgesellschaft zu orientieren suchen.
Was Ball auch am Lumpenproletariat kritisiert, ist das Schauspielerische im für ihn negativen Sinn. Er wendet sich gegen die Renommier-Pose von Bürger und Kleinbürger. Zwar schildert er jene Selbstüberhebung der 'Kleinen' in einer sympathisch-ironischen Weise; die Kritik ist dennoch unüberhörbar." (21)

 

Carl Zuckmayer: "Katharina Knie"

 

Familiendrama mit Happy End: Neben einem Kapitel Zirkusgeschichte (über das Seiltänzer-Gewerbe seit dem 16. Jahrhundert) hat auch ein bescheidener Ansatz von Kulturkritik Eingang gefunden in das Bühnenstück vom Familienunternehmen Knie. Die Existenz des kleinen Wanderzirkus ist bedroht von der allgemeinen Verbreitung des Kinos. Selbst an Samstagen bleibt das Publikum aus:

 

"Ignaz
Kei Wunder, wo se jetzt e Kino im Ort hawwe, mitte in de Hauptstraß." (22)
Ignaz ("Der schöne Nazi"), der dann aber als Double im Film auftrat, wird deswegen von den Söhnen Knies verachtet. Der Böse ist von der Tradition abgewichen, ein folgenreicher Konflikt bleibt aber aus, der Untergang der Welt der Fahrenden findet nicht statt. Weder "Neue Medien" noch Inflation oder die Sehnsucht nach bürgerlicher Geborgenheit (von Katharina) führen am Ende zu einer Veränderung. Die verlorene Tochter kehrt zurück und führt den Zirkus ganz im Sinne des verstorbenen Vaters weiter (Julius ruft beim Anblick der plötzlich resolut gewordenen Tochter mehrmals: "De Vatter" (23) ). Im Grunde hat sich Vater Knie stets als bodenständiger und ordentlicher Gewerbetreibender verstanden:

 

"Knie
(...) Mir hawwe ein Gewerbeschein als freie Seiltänzer, der stammt ausm sechzehnte Jahrhundert." (24)
Rothacker aber kam recht unverhofft durch eine plötzliche Erbschaft zu seinem Grundbesitz. Knie entwickelt tatsächlich ein Standesbewußtsein:

 

"Knie
(...) Sie kann doch nit einfach heirate wen se mag - das geht nit bei unserm Stand! Es kommt nur ein erstklassiger Bankist in Frage, en selbständige Direktorsohn oder so was, da hätt se schon drei-, vierfach die Wahl gehabt. Aber sie will un will nit ..." (25)
Vater Knie denkt in kleinbürgerlichen Kategorien, auch wenn es um die Schulbildung seiner Tochter geht:

 

"Knie
Das Mädchen schreibt Ihne so flink wie se Kugel läuft. Deutsch un Lateinisch un Rundschrift, un was se wolle. In jedem größeren Kaff, wo wir ware, hab ich se in die Schul geschickt, un wenn mir im Winterstandquartier liege, da besucht sie die Handelsschul, un lernt rechne un buchführe un all das Zeug. Ich denk immer, wenn ich mich doch noch emal vergrößern sollte, oder es doch noch emal in en bessere Zirkus einheirate deet - da kann ma das brauche." (26)
Zusammen mit seinem Katholizismus und seiner naiven Jenseitsphantasie kurz vor seinem Tode ergibt sich ein Bild von idyllischer Zufriedenheit und eines in Traditionen (Beruf und Kirche) gefestigtem Dasein. Das kleine Zirkusunternehmen ist sauber und fromm, daß es sogar dem Großgrundbesitzer Rothacker imponiert:

 

"Rothacker schaut in einen Wagen
Sauber is da drin.

 

Katharina
Und schön auch! Sehen Sie die Fächer, und die Photographien!!

 

Rothacker
Die Mutter Gottes hängt auch überm Bett.

 

Katharina
Freilich! Der Vatter is fromm. Sonntags, da müsse mir immer in die Meß gehn." (27)
Ansätze zu Gesellschaftskritik (ein Artist, Fritz, ist Kommunist, ein anderer, Ignaz, ist Nazi) werden nicht weiterverfolgt. Ebensowenig spielen die tödlichen Gefahren der Artistik oder das unstete Leben eine entscheidende Rolle, Vater Knie meistert solche unbürgerlichen Probleme mit Leichtigkeit.
Walter Benjamin hat für das Stück nur Ironie übrig:

 

"Man nehme ein nicht mehr allzu junges Vaterherz, schneide dasselbe in 4 aktlange Scheiben, lege sie sauber auf einen Gemeinplatz, schlage sie längere Zeit breit, röste sie sodann (am besten mit W. von Heimburgs Back- und Bratfett 'Alles in Butter') auf kleinem Feuer und übergieße sie dabei fleißig mit einem Viertelliter heißer Tränen. Inzwischen hat man einen Backfisch sorgfältig abgeschuppt, das Innere und besonders das Gehirn sauber entfernt und das Fischlein auf allen Seiten knusprig abgebräunt (Fisch- und Bratenwender 'Prachtmädel'). Man verarbeitet nun das alles zu einer Masse und preßt sie in einem schneeweißen Linnen, bis der letzte Rest Handlung abgetropft ist. Zum Schluß wird das Ganze mit einem Päckchen Gelantine ' 's Badener Ländle' angerührt, mit einer Lage Streuzucker Marke 'Sternennacht' überstäubt und das schmackhafte Gericht (bekanntlich eine Leibspeise des seligen Ludwig Pietsch) in einer Gartenlaube serviert. Als Garnierung verwende man die herbstlichen Blätter eines immer noch fröhlichen Weinbergs." (28)

Für Zuckmayer stand außer Zweifel, daß Zirkusartisten rechtschaffende Menschen sind, die Zirkusehre ihren beständigen Wert hat und alle Miseren irgendwie zu meisten sind. Kunstästhetische Überlegungen spielen dabei so gut wie keine Rolle, obwohl der Hinweis auf den populär werdenden Film dazu durchaus Gelegenheit geboten hätte. Die schöne Welt des Zirkus hat in der Schilderung Zuckmayers rein mit äußerlichen Widrigkeiten zu kämpfen. Schöner Schein im Zirkus sei kein böser Trug, sondern Ergebnis solider handwerklicher Kunstausübung.
Bei der Theaterkritik fiel das Stück demnach auch durch.

 

Alfred Kerr: "Ein Seiltänzerstück. Aber nicht (wie das Bühnenwerk 'Artisten' (29) ) voll Tricks, mit unromantischer Sachlichkeit: sondern bei Zuckmayer dörflich, mit mehr deutscher Sentimentalität. Zuckmayers Fall ist so: Die Milieuschilderung biegt ab in die Dorfgeschichte, Die Sonderwelt biegt ab in das Genrebild." Kurt Pinthus: "(...) wie eine Gänseleber erstarrt dieser Stoff in dickem Schmalz (...)".

 

Ludwig Marcuse: "Die sentimentale Geschichte vom Katharinchen, die Zirkus-Papa und Zirkus-Kollegen verläßt, um wieder (nach dem Tod des Papas) zu ihren Leuten zurückgeht - Papa Knies Herze-Freud und Herze-Leid benutzt Zuckmayer nur als Rahmen: für Schollen; Schollen; Schollen." (30)
Diese harsche Kritik gefällt dem Autor zwar nicht, aber aus seiner Sicht gibt ihm der Erfolg des Stückes, das "jahrelang auf dem Spielplan all der vielen deutschen Bühnen stand" (31) , Recht:

 

"Man konnte also, wenn man gutes Theater machte, auch über die mächtige Kritik triumphieren." (32)
Und schließlich hatte Zuckmayer ja auch das Einverständnis der Familie Knie, die anfangs Bedenken wegen Schädigung des guten Rufs des Familiennamens äußerte. Nachdem vier Familienmitglieder die Generalprobe angesehen hatten und zu Tränen gerührt waren (33) , konnte sich Zuckmayer sicher sein, mit seinem Stück richtig zu liegen.

 

 

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Anmerkung zum 2. Kapitel

(1) Vgl. dazu Kutscher, Frank Wedekind, a.a.O., Band 1, S. 303 - 316 oder seine eigene Zusammenfassung dieses Kapitels im Aufsatz "Wedekind und der Zirkus", a.a.O., S. 1 - 5.

 

(2) Im Tagebuch aus der Pariser Zeit sind die vielen Besuche in den Varietés und im Zirkus notiert. Wedekind verkehrte in dieser Zeit auch mit dem Allroundkünstler Willi Morgenstern alias Rudinoff. Vgl. Wedekind, Die Tagebücher, a.a.O., S. 167 - 310. Wedekind lernte Rudinoff bereits 1887 in Zürich kennen, seitdem verband sie eine Freundschaft, vor allem, seit sie sich in Paris wiedertrafen. Wedekind muß Rudinoff wohl sehr verehrt haben, was freilich nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. In einem Feuilleton ("Wedekind unter den Artisten", a.a.O.) geht Rudinoff mit seinem Freund hart ins Gericht: Wedekinds Arbeiten, vor allem die Zirkuspantomime "Die Kaiserin von Neufundland" und "Erdgeist", wirkten auf ihn, als sei ein "abnormaler, kranker, verwirrter Geist am Werke". Überhaupt habe Wedekind nur sehr wenige Artisten persönlich kennengelernt, und das auch nur sehr oberflächlich: "Wedekind verstand es nicht, den Ton zu treffen, den man anschlagen muß, um einen Zirkusmenschen zum Reden zu bringen." Anscheinend blieb Wedekind stets ein Außenstehender, ohne dies wahrhaben zu wollen: "Wedekind wäre gern ein kühner Abenteurer gewesen! Am liebsten ein Casanova! (...) Hierzu fehlte ihm rein alles! Kraft, Schönheit, Vitalität, Lebensgewandheit, gesundes Denken und nicht zuletzt - jeder Mut." Rudinoff verwahrt sich auch dagegen, mit der Dramenfigur Fritz Schwigerling identifiziert zu werden. Die Figur sei frei erfunden (Kutscher hat denn auch eine literarische Vorlage ausgemacht, vgl. Anmerkung 5 zu diesem Kap.). Rudinoff weist auch eine autobiographische Notiz Wedekinds zurück, in der es heißt, er sei als Sekretär ein halbes Jahr mit dem Zirkus Herzog gereist und habe anschließend Rudinoff auf seiner Tournee begleitet. Auch Kutscher verweist auf Schwierigkeiten, diese Angaben mit Unterlagen zu bestätigen (Vgl. Kutscher, Frank Wedekind, a.a.O., Band 1, S. 149). Rudinoff bemerkt dazu: "Mein lieber Freund Frank ist weder mit dem Zirkus 'Herzog' noch je mit mir gereist! Wir wollen ihm diese kleine Abweichung von der Wirklichkeit nicht verübeln. Er wollte seinem Leben, das so gar nichts 'Abenteuerliches' aufzuweisen hatte, einen - in diesem Fall unechten - Goldglanz von Indianerromantik anpolieren. Er hatte aber nur das Schaumgold seiner Quartanerphantasie zur Verfügung, Reste des Märchenglanzes, womit seine liebe Mama die Äpfel und Nüsse für Franks Weihnachtsbäumchen einmal vergoldet hatte ...". Rudinoffs Einschätzung korrespondiert mit der Beurteilung Wedekinds von Egon Friedell: "Er will bestimmte Gedanken verkünden, bestimmte Ideale der Lebensführung lehren, aber die messianische Gebärde wird bei ihm unwillkürlich zur herostratischen. eine ganze Art hat überhaupt etwas gymnasiastenhaftes. Er sagt seine Sachen immer noch mit einem Unterton von Trotz und Ressentiments." (Friedell, Wedekind, a.a.O., S. 121 f. Daß der Zirkus einen romantischen Reiz auf Zuschauer ausübte, beschreibt auch Signor Saltarino (Das Artistentum und seine Geschichte, a.a.O., S. 199): "Wie falsch sind aber durchweg die Vorstellungen, die sich den Artistenkreisen Fernstehende von ihnen machen! Für den naiven Zuschauer umgibt die Künstler des Zirkus und des Varietees eine eigenartige Romantik, und vielleicht gibt es sogar viele unter ihnen, die sie, geblendet durch den Glanz von äußerem Tand, der sie umgibt, beneiden (...)." Den Schriftstellern, die das Zirkusmilieu beschreiben, erteilt Signor Saltarino in einem eigenen Kapitel (a.a.O., "Zirkusliteraten", S. 155 - 160) eine Abfuhr: "Die vielgestaltige, buntfarbige Welt des Zirkus, der glitzernde, gleißende Flittertand der Manege, der noch mehr vom Zauber der Romantik umflossen wird, wie das wirre, blendende Treiben vor dem Rampenlicht auf den Brettern, die die Welt bedeuten, wurde immerdar von begabten Schriftstellern aller Sprachen in ihren Romanen geschildert, aber leider selten so, wie sich diese Welt in Wirklichkeit präsentiert, meistens bizarrverzerrt und unwahr."

 

(3) Jones, Art and entertainment, a.a.O., S.145.

 

(4) Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir, a.a.O., S. 432

 

(5) Kutscher, Eine Quelle Wedekinds, in: Die Literatur, a.a.O., S. 395 ff. Ungeachtet der Tatsache, daß Wedekind auf eine literarische Figur zurückgegriffen hat, hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich ein "populäre(r) Seiltänzer und Puppenspieler Theodor Schwiegerling" gelebt. Vgl. Signor Saltarino, Das Artistentum und seine Geschichte, a.a.O., S. 168. Auf diesem Schwiegerling basiert höchstwahrscheinlich Signor Dominos Figur.

 

(6) Wedekind, a.a.O., S. 347

 

(7) Allan, Mögliche Unmöglichkeiten, a.a.O., S. 6

 

(8) Völker, Wedekind, a.a.O., S. 30 f.

 

(9) Wedekind, a.a.O., S. 356 f. Günther und Winkler beschreiben im Kapitel "Die Spuren der Amerikaner" ihrer Zirkusgeschichte, a.a.O., S. 97 ff., die Verhältnisse in den amerikanischen Zirkussen: "Das Streben der Unternehmer nach höchstem Gewinn führte zu einem Gigantismus, zu Massenaufgeboten an Menschen, Tieren, Sensationen, wie sie die Welt des Zirkus bis dahin nicht kannte (...) 'Eine Kunst ist gut, die Dollars macht'."  William Frederic Cody alias Buffalo Bill unterhielt das Zirkuspublikum mit seinem 'Congress of Rough Riders of The World' und verband seine Reitkunstdarstellungen "zugleich mit dem völkerkundlichen Aspekt; in seinen Shows präsentierte er neben Indianern und Cowboys Gauchos, mexikanische Vaqueros, Kosaken aus dem Kaukasus, Beduinen, japanische, englische, amerikanische Kavallerie ...". Der Zirkus stellte eben auch das adäquate Unterhaltungsgenre des imperialistischen Zeitalters dar.

 

(10) Wedekind, a.a.O., S. 370

 

(11) Wedekind, a.a.O., S. 355

 

(12) Wedekind, a.a.O., S. 882

 

(13) Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 111. Die Seitenangaben bei den Wedekind-Zitaten beziehen sich auf die gleiche Ausgabe wie oben.

 

(14) "Lulu ist überdies ein Männertrauma." Mayer, Außenseiter, a.a.O., S. 131

 

(15) Starobinski, Portrait des Künstlers als Gaukler, a.a.O., S. 47 f.

 

(16) Nietzsche, a.a.O., Band 4, S. 85.  Nietzsche stellt freilich nur die Spitze eines Eisberges von patriarchalischer Weltanschauung dar.

 

(17) Theweleit, Männerphantasien, a.a.O., S. 101

 

(18) Ball, Flametti, a.a.O., S. 105

 

(19) Ball, Flametti, a.a.O., S. 124

 

(20) Ball, Aus dem Vorwort zu Flametti; ist in keiner Buchausgabe bisher veröffentlicht, daher zit. nach: Teubner, Hugo Ball, a.a.O., S. 148. In diesem Vorwort heißt es im nächsten Satz: "Ich wollte auf diese Weise das Bürgertum treffen, das indianisch bleibt, trotz seiner kulturhaften Reden und Aufführungen; das bourgois bleibt trotz seiner indianerhaften Kriege. Ein wenig Ironie hinein gemischt ..." Die Indianer-Metapher erscheint hier ambivalent, nämlich auf die Subkultur gleichermaßen wie auf das Bürgertum bezogen. Die Ähnlichkeit der sozialen Schichten wird an dieser Stelle hervorgehoben.

 

(21) Steinbrenner, "Flucht aus der Zeit?", a.a.O., S. 146

 

(22) Zuckmayer, Katharina Knie, a.a.O., S. 258

 

(23) Zuckmayer, Katharina Knie, a.a.O., S. 297

 

(24) Zuckmayer, Katharina Knie, a.a.O., S. 249

 

(25) Zuckmayer, Katharina Knie, a.a.O., S. 251

 

(26) Zuckmayer, Katharina Knie, a.a.O., S. 229

 

(27) Zuckmayer, Katharina Knie, a.a.O., S. 245

 

(28) Benjamin, Vaterherz, kalt garniert, a.a.O., Band IV/1, S. 461

 

(29) Kerr bezieht sich hier auf das Varieté-Stück der Amerikaner Gloryl Watters und Arthur Hopkins, das Max Reinhardt 1928 mit Artisten als Schauspieler erfolgreich inszenierte. Vgl. Rühle, Theater für die Republik. 1917 - 1933; a.a.O., S. 873 - 879

 

(30) Die Stimmen der Theaterkritiker wurden zitiert nach: Rühle, Theater für die Republik. 1917 - 1933; a.a.O., S. 910 - 916

 

(31) Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir, a.a.O., S. 438

 

(32) ebd.

 

(33) Vgl. Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir, a.a.O., S. 432 ff.