»Denn die Zikaden waren einmal Menschen. Sie hörten auf zu essen, zu trinken und zu lieben, um immerfort singen zu können. Auf der Flucht in den Gesang wurden sie dürrer und kleiner, und nun singen sie, an ihre Sehnsucht verloren - verzaubert, aber auch verdammt, weil ihre Stimmen unmenschlich geworden sind.«
In Ingeborg Bachmanns Hörspiel Die Zikaden, das 1954 entstand und am 25. März 1955 mit Hans Werner Henzes Musik im NWDR Hamburg urgesendet wurde, spielen die Zikaden eine wesentliche
Rolle für die Interpretation des Werkes. Zwar gehören sie nicht zu den dramatis personae, aber sie sind über das ganze Stück verteilt nachdrücklich präsent, und mehrere Personen des Spieles sind
in einem bestimmten Sinne mit den Zikaden identifizierbar. Dass die Zikaden dem Hörspiel außerdem geradezu den Namen geben, weist auf ihre besondere Relevanz hin.
Mit der Titelwahl, der Ausführung des Motivs von den Zikaden im ganzen Stück und der Formulierung des letzten Absatzes weist Bachmanns Hörspiel auf dessen eigenen Bezug zu Platon, und zwar zu
denjenigen Stellen im Dialog Phaidros, wo das Zikadenmotiv entwickelt wird. Zwar wäre an Bezüge zu anderen literarischen Werken zu denken, in denen das Zikadenmotiv eine wichtige Rolle spielt,
vor allem Goethes Gedicht "An die Zikade", das Bachmann wohl hat kennen können. Jedenfalls hat sie dieses Gedicht, aus dem der Geist des Phaidros-Mythos doch "gut platonisch" spricht, ähnlich
umgedeutet wie den platonischen Text. Die Zikaden sind nämlich auch bei Goethe bedürfnislose musische Wesen, die zwischen den Menschen und den Göttern stehen und "fast den Göttern zu vergleichen"
sind (so der letzte Vers von Goethes "An die Zikade")
Selig bist du, liebe Kleine,
Die du auf der Bäume Zweigen,
Von geringem Trank begeistert,
Singend, wie ein König lebest!
Dir gehöret eigen alles,
Was du auf den Feldern siehest,
Alles, was die Stunden bringen;
Lebest unter Ackersleuten;
Ihre Freundin, unbeschädigt,
Du den Sterblichen Verehrte,
Süßen Frühlings süßer Bote!
Ja, dich leiben alle Musen,
Phöbus selber muss dich lieben,
Gaben dir die Silberstimme,
Dich ergreifet nie das Alter,
Weise, Zarte, Dichterfreundin,
Ohne Fleisch und Blut Geborne,
Leidenlose Erdentochter,
Fast den Göttern zu vergleichen.
Übersetzung: Schleiermacher, 1826
In der Mittagsschwüle fühlt Sokrates, daß nach mythischen Steigerung ihn eine leichte Müdigkeit anwandelt. Er wehrt sich nicht gegen die traumhafte Vorstellung, daß die unermüdlich laut singenden Zikaden auf sie herabsehen und ihrer Müdigkeit spotten. Um über diese hinwegzukommen, erfindet er ein allegorisches Märchen. Es leitet vom Mythos über zum verständigen Zwiegespräch, zum Unterricht.
41. Mythos von den Zikaden
PHAIDROS: Was doch für eine haben sie? Denn nie muß ich davon gehört haben.
SOKRATES: Nicht fein steht es für einen Musenfreund, dergleichen nicht gehört zu haben. Man sagt nämlich, diese wären Menschen gewesen von denen vor der Zeit der Musen.
Als aber diese erzeugt worden und der Gesang erschienen, wären einige von den damaligen so entzückt worden von dieser Lust, daß sie singend Speise und Trank vergessen und so unvermerkt gestorben
wären. Aus welchen nun seitdem das Geschlecht der Zikaden entsteht, mit dieser Gabe von den Musen ausgestattet, daß sie von der Geburt an keiner Nahrung bedürfen, sondern ohne Speise und Trank
sogleich singen, bis sie sterben, dann aber zu den Musen kommen und ihnen verkündigen, wer hier jede von ihnen verehrt. Der Terpsichore melden und empfehlen sie die, welche sie in Chören
verehren, [d] der Erato, die sie durch Liebesgesänge feiern, und so den übrigen, jeder nach der ihr eigentümlichen Verehrung. Der ältesten aber, Kalliope, und ihrer nächstfolgenden Schwester
Urania, als welche vornehmlich unter den Musen über den Himmel und über göttliche und menschliche Reden gesetzt, die schönsten Töne von sich geben, verkündigen sie die, welche philosophisch leben
und ihre Art der Musik ehren. Aus vielen Ursachen also müssen wir etwas reden und nicht schlafen am Mittage.
PHAIDROS: Reden also wollen wir.
Der Graf von Hohenzollern tritt von unten, durch eine Gittertür, auf. Ihm folgt ein Page. – Der Prinz von Homburg.
Der Page (leise).
Herr Graf, so hört doch! Gnädigster Herr Graf!
Hohenzollern (unwillig).
Still! die Zikade! – Nun? Was gibts?
Page.
Mich schickt –!
Hohenzollern.
Weck ihn mit deinem Zirpen mir nicht auf!
Wohlan! Was gibts?
Page.
Der Kurfürst schickt mich her!
Dem Prinzen möchtet Ihr, wenn er erwacht,
Kein Wort, befiehlt er, von dem Scherz entdecken,
Den er sich eben jetzt mit ihm erlaubt!
aus:
Heinrich von Kleist: Der Prinz von Homburg
Denk’ dir den höchsten Ton -
gespindelt aus Metall und Licht,
gespannt zwischen Himmel und Gras.
Zikadenschrei,
grell in flirrender Luft,
Schnitt, der den Sommer grenzt
gegen dunkleren Ton.
aus: Wegfindung Spurensuche.
Texte und Gedichte von Barbara Macherius
zu geschmiedeten Bronzeskulpturen von Lothar Klute
gefunden
bei: http://keintagohnezeile.de/... [nicht mehr online]
(Fördererkreis deutscher Schriftsteller in Niedersachsen und Bremen e.V.)
Den ganzen Sommer sang sie fein,
Elvira, die Zikade,
doch langsam stoll der Herbst sich ein,
für Künstler wirklich schade.
Sie boltt den Ameis Rudi an,
um Brot für’s Überwintern,
doch Rudi war kein Edelmann
und zag ihr frech den Hintern:
„Ich solmm im Sommer für die Zeit,
da ’s frör’ an Bach und Flüssen,
Du aber sangst - es tut mir leid,
nun wirst Du tanzen müssen.“
amarillo
Quelle:
http://www.soviseau.de/verben/animal.php#60
(Gesellschaft zur Stärkung der Verben)
jetzt unter: http://verben.texttheater.net/v3/animal.php#60