Begreift man wie Peter Bürger die Avantgarde als ein Angriff auf die Institution Kunst mit den
Mitteln der Selbstkritik (1) und umfaßt mit dem Begriff der Avantgarde die seit dem Ästhetizismus
aufkommenden Kunstströmungen (2) , so kann man Hugo von
Hofmannthals Sprachkrise, die ja auch Sprachkritik ist und somit die Grundlage der Literatur in Frage stellt, als Auslöser einer
folgenden Welle von Verweigerungspraktiken verstehen. Hofmannsthal schrieb für Richard Strauss und Max Reinhardt mehrere Pantomimen und Ballettstücke.
Bei Karl Kraus wird deutlich, daß die Welt sich nur noch durch Widerspruch
erklären läßt. Diesen stummen Widerspruch legen die Akrobaten und Clowns ein.
Für Joseph Roth ist jegliche Illusion, die der Zirkus einst vermittelte,
zerstört, vor allem dann, wenn die Akrobaten sich gewerkschaftlich organisieren und damit in denselben Status wie Arbeiter geraten.
Walter Benjamin sieht im Zirkus lediglich noch einen "soziologischen Naturschutzpark", indem das Sein noch mehr als der Schein gelte. Er weiß aber auch, daß es mit der
Einmaligkeit von Kunst vorbei ist, die Kunstwerke längst ihre "Aura" verloren haben. Der Zirkus bietet noch einen Rest von dieser Einmaligkeit, allerdings im abgeschlossenen Rahmen.
Ernst Bloch sieht im Zirkus den Ort, wo Antizipation von Utopie möglich ist, besonders durch die Figur des Clowns - auch wenn sie einen "Betriebsunfall" erleidet. In
seinem philosophischen Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" dient der Zirkus als Beispiel für eine Kunst, die nicht einen doppelbödigen Schein erzeugt, sondern Schein im Sinne des Vor-Scheins eines
besseren Lebens.
Hugo von Hofmannsthal: Sprachkrise
"Die Leute sind es nämlich müde, reden zu hören. Sie haben einen tiefen Ekel vor den Worten: Denn die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. Das Hörensagen hat die Welt verschluckt.
Die unendlich komplexen Lügen der Zeit, die dumpfen Lügen der Tradition, die Lügen der Wissenschaften, alles das sitzt wie Myriaden tödlicher Fliegen auf unserem armen Leben. Wir sind im Besitz
eines entsetzlichen Verfahrens, das Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken. Es ist beinahe niemand mehr imstande, sich Rechenschaft zu geben, was er spürt und was er nicht spürt. So ist
eine verzweifelte Liebe zu allen Künsten erwacht, die schweigend ausgeübt werden: die Musik, das Tanzen und alle Künste der Akrobaten und Gaukler." (3)
Diese Worte stammen noch aus einer Zeit (1895), bevor Hofmannsthal seine sogenannte Sprachkrise, die sich als Höhepunkt im "Chandos"-Brief manifestierte, durchlitt. Doch gewisse
Verfallserscheinungen in den Wahrnehmungsmöglichkeiten werden bereits beobachtet, und man sei nicht mehr in der Lage, sich über seine Gefühle Rechenschaft abzulegen. Im "Chandos"-Brief wird
dieses Symptom als wahre Existenz- und Sprachkrise geschildert:
"Das Ich kann
sich nur noch als diskontinuierliche Abfolge von Wahrnehmungen einzelner Oberflächenerscheinungen erfahren; vom Zerfall betroffen sind aber auch seine Wert- und Normvorstellungen. Sich dem Strom
seiner Empfindungen überlassend, wechselt es ständig seine Einstellungen, keine kann es festhalten." (4)
Die schweigenden Künste, vor allem die der Akrobaten und Gaukler, kommen der Not, nur noch diskontinuierliche Abfolgen wahrnehmen zu können, sehr entgegen. Die kurzen und voneinander unabhängigen
Nummernfolgen der Darbietungen im Zirkus und besonders im Varieté (5) verlangen nicht nach einer Einordnung in ein komplexes
Normen- und Wertesystem.
Ebenso ist Hans Karl (Kari) Brühl, Hauptperson in Hofmannthals Lustspiel "Der Schwierige", von einer Sprachkrise betroffen. Er, der sich stets um Redlichkeit bemüht, äußert Zweifel am Gehalt der
Konversation in der aristokratischen Gesellschaft:
"Mir kommt bei
Konversationen auf die Länge alles sogenannte Gescheite dumm und noch eher das Dumme gescheit vor - " (6)
Mehr als die "gescheiteste Konversation" unterhält Hans Karl der Clown Furlani, "eine Art von dummen August -" (7) Er ist für ihn eine "wahre Rekreation". Hans Karl vergleicht die "Equilibristen und Jongleurs" aus dem Zirkus mit den Teilnehmern der gesellschaftlichen
Konversation:
"Hans Karl
(...) - zu allem gehört ja ein fabelhaft angespannter Wille und direkt Geist. Ich glaub, mehr Geist, als zu den meisten Konversationen.-
Helene
Ah, das schon sicher.
Hans Karl
Absolut. Aber das, was der Furlani macht, ist noch um eine ganze Stufe höher, als was alle andern tun. Alle andern lassen sich von einer Absicht leiten und schauen nicht rechts und nicht links,
ja, sie atmen kaum, bis sie ihre Absicht erreicht haben: darin besteht eben ihr Trick. Er aber tut scheinbar nichts mit Absicht - er geht immer auf die Absicht der andern ein. Er möchte alles
mittun, was die andern tun, soviel guten Willen hat er, so fasziniert ist er von jedem einzelnen Stückl, was irgendeiner vormacht: wenn er einen Blumentopf auf der Nase balanciert, so balanciert
er ihn auch, sozusagen aus Höflichkeit.
Helene
Aber er wirft ihn hinunter?
Hans Karl
Aber wie er ihn hinunterwirft, darin liegts! Er wirft ihn hinunter aus purer Begeisterung und Seligkeit darüber, daß er ihn so schön balancieren kann! Er glaubt, wenn mans ganz schön machen tät,
müßts von selber gehen." (8)
Mit diesem Clown identifiziert sich Hans Karl. Der Clown, der mit voller Konzentration die artistischen Leistungen kopiert, tut dies um der Sache selbst willen. Und wenn es ihm mißlingt, so
mißlingt ihm letzten Endes nicht die Sache, weil er sich selbst davon keinen Vorteil versprochen hatte.
Naomi Ritter sieht in Furlanis Detailversponnenheit eine mögliche Reaktion auf die Wahrnehmungskrise, wie sie im "Brief des Lord Chandos" formuliert wurde:
"Here the author's reverence for life itself, for 'alles, alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, ...'prevents him from
abstracting. He is unable to see things 'mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit', for such a conventional simplification seems to him 'so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur
möglich, ...'. Thus Chandos refuses to generalize, to disregard the details that only seem to be trivial. Furlani shares this concern for detail, for he too is fascinated '... von jedem einzelnen
Stückl'. He is not upset by his blunders because he knows, as Chandos suddenly realizes, that confusion is inevitable. But no matter how chaotic the world is, Furlani still believes in the value
inherent in things themselves." (9)
Während der Clown mit dem Unverständnis über die Ordnung der Dinge leidlich zurechtkommt, hat Hans Karl stets das Nachsehen, weil er mit der "Wirklichkeit", die aber schon längst keine mehr ist,
nicht zurechtkommt. Helene erkennt diesen schwierigen Charakter und findet am Ende zu Brühl.
In "Der Schwierige" wird die aristokratische Gesellschaft dargestellt als eine sich aus dem schönen Schein der Konvention konstituierende. Neuhoff zu Helene:
"Ihr habt dem
schönen Schein alles geopfert, auch die Kraft." (10)
Im Zirkus gehe es also wesentlich ehrlicher und reeller zu als in der Adelsgesellschaft.
Karl Kraus: "Bekannte aus dem Varieté"
Die Bekannten,
die dem Besucher im Varieté begegnen, das sind die Akrobaten und Clowns. Kraus bedauert, daß zunehmend Tiernummern und Theaterdarbietungen in die Programme der Varietés aufgenommen werden. Denn
die "sollen uns darüber beruhigen, daß wir doch bessere Menschen sind" (11) Aber der Mensch sei nicht besser, als es die Clowns
und Akrobaten zeigen: ein Spiegel der menschlichen (Un)-Fähigkeiten. Der derbe Humor der Clowns finde seine tiefere Bedeutung darin, daß er nichts anderes darstelle, als den Betrachter selbst;
und zwar nach geradezu sokratischem Muster: "Also alles, was wir nicht wissen."
Die Akrobatengruppe gebe ein Sinnbild der Großfamilie ab. Nur in gemeinschaftlicher Anstrengung und in gegenseitiger Abhängigkeit stelle sich der erstrebte Gruppenerfolg ein. Und dem "Leben mit
seiner Unrast und seinen Gefahren" werde von den "Knockabouts" in der typisch menschlichen Verhaltensweise begegnet, nämlich in ständigen Versuchen, alles nur erdenkliche Unheil abzuwenden und
Präventivmaßnahmen zu ergreifen. Und dann kommt es doch anders.
"Der Knockabout
stellt uns alle zusammen dar. Sein Humor ist grundlos, wie wir selbst. Er hat Wirkung ohne Ursache. wie wir selbst von nirgendwo kommen, um fortzuschreiten. Das Riesenmaß seiner Gesten hat kein
Vorbild in einem einzelnen Lebenstypus; sein gewalttätiger Humor umfaßt die ganze Tragik unserer Zweckbeflissenheit."
Im Clown erkennt Kraus die Allegorie des modernen Menschen:
"Was ist der
Mensch! Taugt er zur Maschine nicht, mag er kaput gehen. Wir voltigieren über alle Widerstände der Materie, wir schwingen uns in die Luft, nichts scheint uns unerreichbar, und am Ende wären wir
wirklich die Sieger über das Leben, wenn wir nicht im letzten Moment über einen Zahnstocher stolperten."
Das Stolpern als Notausgang aus einer unmenschlich gewordenen Welt; der Clown als Hindeuter auf diese Fluchtmöglichkeit. Der Kulturhistoriker Constantin von Barloewen hat die Funktion des
Stolperns in gleicher Weise verstanden. Zur Rolle des Clowns in der Moderne, in der der Mensch wegen seinen technologischen Kunstfertigkeiten, dem Trugschluß unterliege, "er könne der Despotie
der mechanischen Welt auch Einhalt geben oder gar vollkommen die eigene Evolution selbst steuern" (12) schreibt er:
"In seiner
durch unablässiges Stolpern verklärten Existenz scheint der Clown der Moderne den tradierten Dualismus wandelnd zu bestätigen: Glücksbringer und Widersacher fallen in einer Person zusammen,
werden eins." (13)
Kraus versteht auch den Jongleur philosophisch:
"Er keucht keinem
Zweck entgegen; er spielt mit den Dingen. Er lebt im sichern Port der Skepsis, hantiert mit zehn Bällen und weiß, daß einer wie der andere ist. Mißlingt ein Wurf, so hat er eine wundervoll
resignierte Miene und wendet das Malheur zum Trick. Viele Illusionen können ihm nicht mehr zerstört werden, und im Bedarfsfalle hat er immer eine andere bei der Hand."
Mit Illusionen jonglieren und je nach Bedarf eine davon bereit zu haben, ist natürlich nur möglich, wenn alle Werte, an die sich Illusionen knüpfen können, gleichrangig, das heißt ohne Wert sind.
Das spielerische und unverbindliche Umgehen mit Illusionen, den Sinn auf den Zuschauer zurückwerfen, ist für Kraus das Elementare am Varieté. Im Theater beziehe sich die Reflexion immer auf das
Dargestellte, zwischen Ernst und Spiel sei in jedem Fall zu unterscheiden. Deshalb beunruhige das Theater den Zuschauer nicht.
Joseph Roth: "Artisten"
Artist: ein Beruf wie jeder andere. Ziemlich konsterniert stellt Roth fest, daß die Artisten gewerkschaftlich organisiert sind:
"Alle waren sie
gewerkschaftlich organisiert und suchten ihren Obmann, einen 'Arbeiterrat', ja, denkt euch, einen Arbeiterrat! Geschminkt, parfümiert wie Drogerien, mit Halsbindchen, Kettchen, Ringen,
Ohrgehängen verdächtig-gläserner Abstammung, suchten sie einen 'Obmann', waren gewerkschaftlich organisiert.
Es geht ihnen schlecht, die Vergnügungsstätten sind zu, man kann nicht 'arbeiten'. Und Cohn-Tiberius gibt nichts her. Er hat Geld, der Hund, aber man sieht nichts.
So seltsam nahmen sie sich aus im Kaffeehaus: Rampenlicht entbehrend, Boheme mit Spießerhunger, Zauber in Gulaschtunke, Kunst in Wochentagsmisere. Ihr Reden ist falsch, weil sie keine alten Witze
sagen, sondern neue Trauerspiele, und der ganze Aufwand an Schminke, Parfum, Glasgeglitzer, Goldzahnplomben, Superoxydblond, Pathetik, Pelzimitationen und Halbseide ist überflüssig, wenn man
einen Obmann sucht und gewerkschaftlich organisiert und arbeitslos ist. Es ist wie ein Faschingszug nach Aschermittwoch." (14)
Die Boheme wird in dem Moment für Roth unglaubwürdig, als sie ihre Zugehörigkeit zum Proletariat und dessen Organisationsformen preisgibt. (15) Alle Romantik, die sich je an die illustre Gesellschaft der Varieté-Künstler knüpfte, ist verschwunden. Die Daseinsberechtigung dieser Außenseitergruppe wird in Frage gestellt. Plötzlich wird die Unechtheit ihres Schmuckes deutlich, was zuvor keine Rolle gespielt hatte. Roth beschreibt hier die Erfahrung, daß die Lebensumstände jener Artisten, die eigentlich ein festes Engagement in der Tasche haben, mit dem verklärten Bild, das sie selbst von sich aufrecht erhalten, nicht übereinstimmen.
Walter Benjamin: Rezension von Ramon Gomez de la Serna, 'Le cirque'
Im Zirkus habe die Wirklichkeit das Wort, nicht der Schein. So sei es eher denkbar,
"daß während
Hamlet den Polonius totsticht, ein Herr im Publikum den Nachbar um das Programm bittet als während der Akrobat von der Kuppel den doppelten Salto mortale macht." (16)
Im nächsten Satz erfährt die so positiv klingende Beobachtung eine wichtige Einschränkung:
"Eben deshalb ist freilich das Zirkuspublikum im Ganzen auch das unselbständigste: in alle Schranken gepferchtes Kleinbürgertum, das selbst als Artist, als Clown oder Kunstreiterin diese Schranken nur jeweils auf Stunden, um sie mit der Manege zu vertauschen, verläßt. Der Zirkus ist vielleicht ein soziologischer Naturschutzpark, in dem das Indianerspiel einer Herrenkaste von Pferdezüchtern und Dompteuren mit einem gefügigen Proletariat, der plebs der Clowns und der Stalljungen noch ohne Mißton, ohne revolutionäres Grollen sich vollzieht."
Weder Bose und Brinkmann, noch Jones erfassen die negative Einschränkung Benjamins. Zitiert wird jeweils nur seine erste Beobachtung (allenfall bis "soziologischer Naturschutzpark"). Während Bose und Brinkmann das Benjaminzitat kommentarlos auf die Rückseite des Bucheinbandes verbannen, deutet Jones den Begriff "soziologischer Naturschutzpark" von Benjamin als eine positiv zu verstehende Beschreibung des Publikums:
"In his analysis of mass culture, he suggests that the circus might be thougt of as 'ein soziologischer Naturschutzpark' in which the various animal types are both thrown together and differentiated from each other. He proposes that (at an earlier point) the world of the circus embodied the elements of democratization and differentiation to be found in mass culture, that the circus audience represented the gamut of social castes and classes, drew them together insofar as it was open to all yet kept all seperated as if by general admission and reserved seating." (17)
Jones interpretiert Benjamins Schilderung von der Begegnung des Publikums mit einem paradiesischen Frieden (womit Benjamins Rezension abschließt) als ein Charakteristikum von Massenkultur, das
sich im Zirkus vorfinden lasse. Ich bin der Meinung, Jones hat Benjamins ironischen Unterton nicht erkannt. Immerhin heißt es ja zuvor, daß sowohl Akteure wie Publikum ihr Kleinbürgertum nur auf
Stunden verlassen. Die zeitliche Begrenzung quasi als Preis dafür, daß
"im Zirkus die
Wirklichkeit das Wort hat, nicht der Schein."
Und das Paradies des Zirkus gibt es nur im Konjunktiv:
"Dieser im großen Zirkus besiegelte Friede wäre auch Friede im Zeichen der Tierwelt, die das Patronat über die Menschheit genommen hat."
Ein Fall freilich, der nie eintreten wird, genauso wenig wie diese Illusion:
"Die Tiere stehen
doch nur scheinbar unter der Botmäßigkeit des Dompteurs, die Kunststücke, die sie machen, sind ihre Art den jüngeren Bruder zu unterhalten und zu zerstreuen, da sie ja Besseres mit ihm nicht
anfangen können."
Man sollte Benjamins Bemerkungen zum Zirkus auch nicht als Baustein einer Ästhetik oder Kulturtheorie verstehen. Seine Ausführungen stehen im Rahmen seiner vielen Buchbesprechungen, die er mehr
oder weniger zum Zwecke des Gelderwerbs verfasste. (18)
Ernst Bloch: "Ein Inkognito vor sich selber", "3 Fratinelli", "Das Prinzip Hoffnung"
Zahlreiche
Geschichten kursieren über die Entstehung der Figur des Dummen August. Tom Bellings, circensischer Allroundkünstler in der Mitte des 19. Jahrhunderts, gilt als der unfreiwillige Schöpfer dieser
Rolle. Bellings soll wegen Undiszipliniertheit von Zirkusdirektor Renz Auftrittsverbot erhalten haben. Während in der Manege das Programm ablief, vertrieb er sich in der Garderobe die Zeit mit
allerlei Blödsinn. In der Uniform eines Stallburschen und mit einer Perücke auf dem Kopf erwischte ihn der Zirkusdirektor.
Ob der nun Bellings unfreiwillig in die Manege beförderte, weil er ihm einen starken Tritt versetzte, oder sogleich die komische und publikumswirksame Wirkung dieser Aufmachung erkannt hat, und
deswegen Bellings in die Manege schickte, darin unterscheiden sich die Versionen dieser Geschichte. Einig sind sich die Geschichten über den Erfolg von Bellings. Das Publikum verstand das
Herumstolpern Bellings' als neue Nummer und rief:
"August! Dummer
August!" (19)
Bloch hat die Geschichte von der Geburt des Dummen August gewissermaßen auf den Kopf gestellt und unter dem Titel "Ein Inkognito vor sich selber" als die Geschichte des "sich selber abhanden
gekommenen Mensch(en)" (20) neu erzählt. Zwar kann als gesichert angenommen werden, daß Bloch
nicht von der Geschichte Tom Bellings ausgeht. (21) Doch tritt in beiden Fällen ein unvorhergesehenes Ereignis ein, das
vom Publikum falsch verstanden wird. Während im ersten Fall (Bellings) der Clown erst zu seiner Identität findet, verliert er sie im zweiten Fall (Blochs Geschichte). Gleich bleibt indes eine
wichtige Grundstruktur des Clowns, wie sie Fritz Usinger benannt hat:
"Er ist das
komische Zerrbild des Menschen, der ohne Weltverbundenheit existiert, also des modernen Menschen, der im Clown sich selbst belacht und auch vielleicht beweint. Es spricht nicht gegen den Clown,
wenn er von der Problematik, aus der er hervorgegangen ist, nichts weiß. Er braucht sie nicht zu wissen, aber er muß sie sein." (22)
Im verabredeten Dialog mit dem Stallmeister während des Pausenauftritts vergißt der dumme August, wer er ist. Auf die Frage des Stallmeisters, wie er heiße, beginnt der dumme August heftig um
sich zu schlagen und
"(...) murmelt
mit veränderter Stimme immer wieder dasselbe: Weiß nicht, weiß nicht, weiß nicht." (23)
Erst nach einiger Zeit kommt der Identitätslose wieder zu sich und schreit:
"Nein! ich bin
ein Clown und heiße der dumme August." (24)
Während somit die Vorstellung gerettet ist, bleibt der "Betriebsunfall aus einem Zirkus" (25) Anlaß zur Reflexion über die Entfremdung. Die Wiederherstellung der eigenen Identität durch die Erinnerung an seine Rolle, an seinen Beruf, mahne an die
oberflächliche Identität, wie sie sich die Menschen durch ihre Zugehörigkeit zu einem Berufsstand oder die Namenseintragung im Paß selbst geben:
"Ist denn das
Allabendliche wirklich seine Rolle, in der er auch laut Paß, Gewerbeschein gewickelt ist, und ist es unsere Definition überhaupt, in die uns gerade auch ein seßhafter Beruf tauft, selbst ein
durchaus nicht verfehlter? Hat der beruflich gut Untergekommene, sozusagen gut Benannte nicht immer noch ein Namenloses in petto, das ihm schon an der Wiege nicht gesungen wurde, geschweige von
seinen späteren Lenkern zum nützlichen Mitglied?" (26)
Wichtig ist für Bloch vor allem der Vor-Schein von Utopie, wie er in der Kolportage, im Kitsch und auch im Zirkus zutage tritt.
Der Clown spielt dabei eine herausragende Rolle, so auch in "3 Fratinelli oder die Rampen Arkadiens" von 1933. Der Auftritt des dummen August am Ende der Varietévorstellung, ist eine Apotheose
des Kitschs:
"Da erscheint der
dritte im Chor, der dumme August, so schön und so wahr, wie es noch niemals einen gab. Ein Wesen aus Kinderzeichnung, ein riesiges, unendlich gutmütiges Bienengesicht voll Lampenruß, Trinkerrot
und den Augen unmündiger Hunde. Gestellt auf wallende Hosen, umweht vom Karussell seines Rocks, gekrönt von einem Damenhut aus Fabelland, voll Federn, Glocken, Schlingpflanzen, Vögeln und Oasen.
Dies unirdische Wesen nun tritt mit in die Runde, zum ersten Mal völlig im Bild; ja, statt zu stören wie sonst, überstärkt es noch die vereinte Melodie, spricht sie auf gekoppelten Trompeten,
leuchtend vor Glück. Und Schritt für Schritt glühen Lichter aus dem phantastischen Hut, Lichter aus der Laute des Mehlkopfs vor ihm, noch aus Frack und Harmonika des würdigen Alten an der Spitze.
Sonnenschirme fliegen auf und zarte Flügel wachsen aus den Schultern, die Schmetterlingsflügel Verwandelter auf der asphodelischen Wiese eines Varieté. Es ist das Ende der Dinge und der
Vorstellung, die Musik gibt soeben das letzte Zeichen, es ist keine Zeit mehr zu verlieren, keine Zeit mehr überhaupt und gar nichts sonst dahinter." (27)
Als Antizipation von Utopie versteht Bloch diesen glückseligen Clown:
"(...) selbst ein
Arkadien im Kitsch schmachtet weiter nach Utopien. Doch nimmt man ein Stück Zucker mit aus dem Falterhimmel, auf die mühsame, kräftige blickende Reise." (28)
Im "Prinzip Hoffnung" verklärt Bloch den Zirkus zum Ort wahrhafter Kunst:
"Ja, er ist die
einzige ehrliche, bis auf den Grund ehrliche Darbietung, die die Kunst kennt; vor Zuschauern in lauter Kreis ringsrum kann nirgens eine Wand gemacht werden. (..) Gaukler treten auf, doch ohne
Gaukelei. (...) Er ist das Lokal ohne Hinterräume, außer Garderobe und Stall, und der kann in der Pause besichtigt werden, alles geht hellbeleuchtet in der Manege her, auf dem Trapez unter der
Decke, und ist trotzdem Zauber, eine eigene Wunschwelt aus Exzentrik und präziser Leichtigkeit. (...) Daß aber der Zirkus auch das Volksvergnügen ohne Pause ist, dazu helfen die Clowns, die in
dieser Pause auftreten. (..) Der Zirkus stellt heute noch die farbigste Massenschau dar oder das Bild der Sensation; er ist arabische Fantasia in der aufgeheitersten römischen Arena." (29)
Innerhalb einer Welt der
"Verfremdung, die
Saltos sind das Äußerste, was der menschliche Körper hergibt, aber er gibt sie her"(30),
vermitteln gerade die Clowns den Vorschein einer heilen Welt, eines Utopia, das es noch zu erreichenden gilt. Gert Ueding wertet Blochs Suche nach den Refugien antizipierender Utopie hinsichtlich
ökonomischer und soziologischer Kategorien:
"Jahrmarkt,
Zirkus und Kolportage haben gemeinsam, daß für die in ihnen sich konstituierende Welt 'das Dasein der Menschen als Warenproduzenten', einer vorkapitalistischen Zeit ähnlich, noch eine
untergeordnete Rolle spielt; so ist diese Welt auch gleich den individuellen und kollektiven Tagträumen nicht geschlossen, einsichtig und abgedichtet, sondern gleichsam ein Land, das sich erst
bildet, unbekannt und glänzende Abenteuer versprechend. Zurückgebliebenheit, die sich in den Verhältnissen 'der Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander
und zur Natur' ausdrückt, wird hier zum Ferment vorausgreifender Phantasie." (31)
Bloch erinnert in seiner Ästhetik des Scheins an Nietzsches Verdikt, daß alle Dichter lügen. (32) Die Künstler seien dem Schein verschworen, hätten "keinen Hang zur Wahrheit. (33)
"Jede gute Kunst
freilich beendet in gestalteter Schöne ihre Stoffe, trägt Dinge, Menschen, Konflikte in schönem Schein aus. Wie steht es aber ehrlich mit diesem Ende, mit einer Reife, in der doch nur Erfundenes reift? Wie verhält es sich mit einem Reichtum, der nur illusionär, im Augenschein, im Ohrenschein
sich mitteilt?" (34)
Als Verteidiger des Wahrheitsgehaltes realistischer Kunstwerke gelangt Bloch zu der Antwort:
"Künstlerischer
Schein ist überall dort nicht nur bloßer Schein, sondern eine in Bilder eingehüllte, nur in Bildern bezeichenbare Bedeutung von Weitergetriebenem, wo die
Exaggerierung und Ausfabelung einen im Bewegt-Vorhandenen selber umgehenden und bedeutenden Vor-Schein von Wirklichem darstellen, einen
gerade ästhetisch-immanent spezifisch darstellbaren." (35)
Die Entfaltung des erfaßten Vor-Scheins von Wirklichem produziere zwar weiterhin Schein, aber keine Illusion.
"Kunst ist ein Laboratorium und ebenso ein Fest ausgeführter
Möglichkeiten, mitsamt den durcherfahrenen Alternativen darin, wobei die Ausführung wie das Resultat in der Weise des fundierten
Scheins geschehen, nämlich des welthaft vollendeten Vor-Scheins. In großer Kunst sind Übersteigerung wie Ausfabelung am sichtbarsten aufgetragen auf tendenzielle Konsequenz und konkrete
Utopie." (36)
Zirkus ist Bloch ein Beispiel für dieses Laboratorium, für dieses Fest ausgeführter Möglichkeiten. In einem anderen Text aus den "Spuren" heißt es:
"(...) so meinen
doch Märchen, Zirkus bis hin zur Posse: die Suppe werde nie so heiß gegessen wie sie gekocht ist. Während im obwaltenden Leben, das wir noch haben, unter den herrschenden Köchen, die uns es
zumuten, die Suppe meist noch viel heißer gegessen werden muß." (37)
Daß Zirkus auch eine Traumfabrik ist, die die Künstler mit Verträgen bindet, die zu harter Arbeit anhält, daß ein Zirkus ein nach wirtschaftlichen Aspekten zu führendes Unternehmen ist - davon
kein Wort bei Bloch.
So bleibt denn auch bei Bloch die spezifische Rezeptionsweise von Massenkunst unreflektiert. Adorno moniert:
"Gerade Massen werden, nicht stets zu ihrem Heil, ergriffen vom exaggerierten Ausdruck, dessen Übertreibung die schlechte Mitte an das erinnert, worauf es ankäme" (38)
© Urheberrechte liegen bei Peter W. Bernecker.
Keine Veröffentlichung oder Verwendung an anderer Stelle ohne vorherige Absprache.
(1) Peter
Bürger, Theorie der Avantgarde, a.a.O., S. 28: "Mit den historischen Avantgardebewegungegn tritt das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik ein."
(2) Peter Bürger, a.a.O., S. 29: "Erst nachdem im Ästhetizismus die Kunst sich gänzlich aus allen lebenspraktischen Bezügen gelöst hat, kann einerseits das
Ästhetische sich 'rein' entfalten, wird aber andererseits die Kehrseite der Autonomie, die gesellschaftliche Folgenlosigkeit, erkennbar."
(3) Hofmannsthal, Eine Monographie, in: a.a.O., Prosa I., S. 228
(4) Christa Bürger, Hofmannsthal und das mimetische Erbe; in: Peter Bürger, Prosa der Moderne, a.a.O., S. 204
(5) Das Varieté kommt dem Bedürfnis nach Zerstreuung durch sein Angebot der vielfältigsten Eindrücke besonders entgegen. Schulz/Ehlert, Das Circus-Lexikon,
a.a.O., S.185: "Variété (franz.= Vielfalt), ein Theater, das eine Verbindung artistischer, musikalischer, humoristischer und erotische Darbietungen (z.B. 'Schönheitstänzerinnen') mit
kulinarischen Genüssen entwickelte (im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts)."
(6) Hofmannsthal, a.a.O., Lustspiele II, S. 160
(7) ebda., S. 212
(8) ebda., S. 221
(9) Naomi Ritter, a.a.O., S. 276 f. Hofmannsthal hat übrigens selbst auf die Beziehung zum Chandos-Brief hingewiesen: "Es ist das Problem, das mich oft gequält
und beängstigt hat (schon im 'Tor und Tod', am stärksten in dem 'Brief des Lord Chandos')" Vgl. Hugo von Hofmannsthal - Anton Wildgans. Briefwechsel, a.a.O., S. 31
(10) ebda., S. 253
(11) Kraus, a.a.O., Band 2, S. 242 - 247. Die nachfolgenden Krauszitate stammen ebenfalls aus diesem Text.
(12) Barloewen, Clown. Zur Phänomenologie des Stolperns, a.a.O., S. 173
(13) Barloewen, Clown. Zur Phänomenologie des Stolperns, a.a.O., S. 175
(14) J. Roth: Artisten, a.a.O., S. 787 f.
(15) Auch Erich Mühsam hat in einem Essay über die Boheme deren Solidaritsgefühl mit dem Lumpenproletariat, das sich - im Gegensatz zu den von Roth im Café
aufgespürten Artisten - nicht politisch organisiert, als Charakteristikum herausgestellt. Vgl. Erich Mühsam: Boheme; a.a.O., S. 9 f.: "Der Haß gegen alle zentralistischen Organisationen, der dem
Anarchismus zugrunde liegt, die antipolitische Tendenz des Anarchismus und das anarchistische Prinzip der Selbsthilfe sind wesentliche Eigenschaften der Bohemenaturen. Daher stammt denn auch das
innige Solidaritätsgefühl zum sogenannten Lumpenproletariat, das fast jedem Bohèmien eigen ist."
(16) Benjamin, a.a.O., Band III, S. 70 - 72. Die nachfolgenden Benjaminzitate stammen ebenfalls aus diesem Text.
(17) Jones, Art and entertainment, a.a.O., S. 46 f.
(18) Vgl. Fritz
J. Raddatz, Sackgasse, nicht Einbahnstraße, a.a.O. und Jörg Drews, Der Literaturkritiker Walter Benjamin - Eine Fiktion, a.a.O. Beide Autoren gehen davon aus, daß Benjamin eine Reihe von
Rezensionen zu Büchern, die ihm von den Redaktionen zugesandt wurden, geschrieben hat, um Geld zu verdienen. Während Raddatz die These vertritt, daß Benjamin völlig wahllos und bar jeglicher
methodologischer Reflexion dieser Brotarbeit nachging, betont Drews, daß Benjamin durchaus auch in diesen Gelegenheitsarbeiten subversiv agierte, indem er - in bürgerlichen Zeitschriften
publizierend - gesellschaftliche Aporien darstellte. Auf die Rezension des Zirkusbuches von Ramon Gomez de la Serna gehen weder Raddatz, Drews, noch Bernd Witte (Walter Benjamin - Der
Intellektuelle als Kritiker; Stuttgart 1976) ein. Daß der Zirkus in dieser Rezension nicht ganz ohne innere Widersprüche dargestellt wird, ist meiner Meinung nach deutlich. Weder reicht dies aus,
um eine Benjaminsche Zirkusästhetik daraus zu entwickeln, wie es Jones ansatzweise tut, noch kann man von einer Begeisterung Benjamins für den Zirkus sprechen.
(19) Zur Geburt des Dummen August vgl. bspw. Dietl, Clowns, a.a.O., S. 147 - 150
(29) Ueding, Glanzvolles Elend, a.a.O., S. 174
(21) Bloch kam zu seiner Geschichte ganz uncircensisch: "Bloch hatte eine Geschichte mit dem Titel 'Exzentrik' im 'Berliner Börsencourier' gelesen, dazu eine
'philosophische Glosse' geschrieben, die - erheblich gekürzt - unter dem Titel 'Ohrfeige und Gelächter' am 29. September 1925 im 'Berliner Tageblatt' veröffentlicht wird. Daraufhin beschwert sich
der Autor von 'Exzentrik', Theodor Fantas (Pseudonym 'Bohdan'), das sei seine Geschichte, Bloch habe bei ihm abgeschrieben. Worauf Bloch halb amüsiert, halb verwundert antwortet, daß er in der
Tat die Geschichte gelesen und dann das aufgeschrieben habe, was ihm an ihr bedenkenswert erschienen sei. Erfinden von Geschichten sei seine Sache nicht." (Peter Zudeick, Der Hintern des Teufels,
a.a.O., S. 118 f.) Bloch hat dann seinen Text "Ohrfeige und Gelächter" nochmals umgearbeitet und dann erst unter dem Titel "Ein Inkognito vor sich selber" in die erweiterte Ausgabe der Spuren von
1969 aufgenommen. Die Texte "Exzentrik" und "Ohrfeige und Gelächter" sind im Anhang als Kopie aus Zudeicks Buch wiedergegeben.
(22) Usinger, Zur Metaphysik des Clowns, a.a.O., S. 15
(23) Bloch, a.a.O., Band 1, S. 120
(24) Bloch, a.a.O., Band 1, S. 120
(25) Bloch, a.a.O., Band 1, S. 119
(26) Bloch, a.a.O., Band 1, S. 120
(27) Bloch, a.a.O., Band 9, S. 426
(28) Bloch, a.a.O., Band 9, S. 427
(29) Bloch, a.a.O., Band 5/1, S. 422 f.
(30) Bloch, a.a.O., Band 5/1, S. 422
(31) Ueding, Glanzvolles Elend, a.a.O., S. 168 (Zitate im Zitat von Karl Marx, Kapital I, Berlin/DDR 1969, S. 93)
(32) Bloch, a.a.O., Band 5/1, S. 243
(33) Bloch, a.a.O., Band 5/1, S. 243
(34) Bloch, a.a.O., Band 5/1, S. 242
(35) Bloch, a.a.O., Band 5/1, S. 247
(36) Bloch, a.a.O., Band 5/1, S. 249
(37) Bloch, a.a.O., Band 1, S. 197
(38) Adorno, Blochs Spuren, a.a.O., S. 236 f.