Es liegt nahe, Thomas Manns Erzählung "Mario und der Zauberer" als eine politische Allegorie zu
betrachten, zumal die Handlung im faschistischen Italien spielt, worauf im Text mehrfach hingewiesen wird. Die Erzählung zielt letzten Endes aber nicht so sehr auf eine politische Aussage, sondern
vielmehr auf eine ästhetische. Der Gegenpol des verwachsenen Zauberers Cipolla ist der körperlich makellose Mario. Allein die Kraft dieses schönen Jünglings setzt sich gegen die ethisch verwerfliche
Gestalt des Hypnotiseurs durch. Die Anspielungen auf den Faschismus steigern im Ganzen die bedrohliche Atmosphäre, können aber der Rahmenhandlung zugerechnet werden.
Zentrales Thema dieser Erzählung ist: dem äußerlich faszinierenden schönen Schein der Zirkuskunst, der allerdings ethisch verwerflich ist, wird der noch schönere Schein des moralisch integren
Mario gegenübergestellt.
In Felix Krull schuf Mann eine Figur, die sich den Zirkusartisten verwandt fühlt. Als Hermes-Figur (1) repräsentiert er sowohl den Narren wie den Verbrecher.
In dieser Doppelfigur spiegelt sich aber auch das Wesen des Künstlers überhaupt.
Thomas Mann: "Mario und der Zauberer"
Vom Beginn der Erzählung an hat die Atmosphäre, in der sich die Handlung abspielt, etwas Bedrohliches an sich. Die Idylle des Ferienortes ist eine scheinbare, der Friede ist dahin, weil er längst einem "Jahrmarkt" weichen mußte. Die Kinder sind die einzigen, die von der Doppelbödigkeit dieses schönen Scheins nichts wissen und sich vergnügen. So bleibt ihnen auch die Begegnung mit dem Zauberkünstler Cipolla nichts weiter als eine abendliche Unterhaltung:
"Gottlob haben sie
nicht verstanden, wo das Spektakel aufhörte und die Katastrophe begann, und man hat sie in dem glücklichen Wahn gelassen, daß alles Theater gewesen sei." (2)
Dabei sind die Sphären des Dämonischen und des Idyllischen gar nicht klar voneinander zu trennen. An mehreren Stellen blickt der Erzähler auf Situationen zurück, in denen sich eine Abreise aus
dem Urlaub angeboten hätte, allein, es fehlte die dazu nötige Willens- und Entschlußkraft. Der Zusammenhang zwischen der Dämonie des Ortes und des tragischen Geschehens wird noch einmal, bevor es
zur Schilderung des dramatischen Höhepunkts von Cipollas Auftritt kommt, hergestellt:
"Es ging hier
geradeso merkwürdig und spanned, geradeso unbehaglich, kränkend und bedrückend zu wie in Torre überhaupt, ja, mehr als geradeso: dieser Saal bildete den Sammelpunkt aller Merkwürdigkeit,
Nichtgeheuerlichkeit und Gespanntheit, womit uns die Atmosphäre des Aufenthaltes geladen schien; dieser Mann, dessen Rückkehr (nach der Pause; P.S.) wir erwarteten, dünkte uns die Personifikation von
alldem; und da wir im großen nicht 'abgereist' waren, wäre es unlogisch gewesen, es sozusagen im kleinen zu tun." (3)
Die Fähigkeit des Hypnotiseurs Cipolla, die individuelle Willensfreiheit zu überwinden - zugunsten eines "in der Luft liegenden Gemeinschaftswillen" - , dient als Modell des faschistischen
Machthabers (Mussolini). Während der gesamten Schilderung der Zaubertricks bleibt unklar, inwieweit Cipolla auf Verbündete im Publikum angewiesen ist. Die Beschreibung verläßt die Perspektive des
teilnahmslosen Zuschauers nicht. Dementsprechend oberflächlich bleibt die Analyse und die Entlarvung des Hypnotiseurs:
"... Aber ich
habe gar keinen Grund, Fähigkeiten, die ihm vor unseren Augen zum Verhängnis wurden, rationalistisch zu verdächtigen." (4)
Seine Fähigkeiten werden dämonisiert und nicht etwa als lediglich raffinierte Tricks beschrieben. Damit rekonstruiert Mann genau das Rezeptionsverhalten des Publikums, das des Erzählers mit
einbezogen. Die Selbstvorwürfe des Familienvaters, mit seinen Kindern zu so später Stunde an einer Veranstaltung teilzunehmen, entschuldigt dieser
"mit einer gewissen
Ansteckung durch die allgemeine Fahrlässigkeit (...), von der zu dieser Nachtstunde auch wir ergriffen waren." (5)
Der Erfolg des Hypnotiseurs beruht aber genau auf diesem Sich-Einlassen des Publikums auf die Faszination des Künstlers. Der Erzähler ist gewissermaßen auch Antagonist Cipollas, "unwillkürlich"
ahmt er das Knallen von dessen Reitpeitsche nach. Die Täuschungs- und Bezwingungsstragegien üben auf den Erzähler eine Anziehungskraft aus. Mit der Kritik an der Kunst Cipollas verbindet sich
gleichsam eine generelle Kunstkritik, die sich auf den Erzähler als Selbstkritik bezieht.
Unter diesem Aspekt wird es möglich, die politische Intention aus dem Zentrum der Erzählung zu verweisen. Thomas Mann hat in einem Brief (15.4.1932) eine vorwiegend politische Deutung der Novelle
abgelehnt. (6)
Im Vordergrund steht das Verhältnis des Publikums zu dem schönen Schein des Dargebotenen. Die Kinder rezipieren das Gesehene sehr naiv. Sie sind von den oberflächlichen Eindrücken, die sie nicht
ganz verstehen, begeistert, schlafen zwischendurch aber auch mal ein. Das Gros des Publikums - Cipolla wendet sich vornehmlich an Leute des Volkes - ist zum Mitmachen bereit. Sie finden sich in
einem besinnungslosen Taumel wieder und entdecken an dieser Kunst doch nichts Dämonisches. Mario ist unter dieser Gruppe die Ausnahme, mit ihm ging der Hypnotiseur zu weit. Immerhin ist er in der
Lage, sich zu wehren. Diese Fähigkeit geht dem Erzähler ab, obwohl er von Anbeginn an die Fragwürdigkeit und Gefährlichkeit Cipollas erkennt. Die intellektuelle Vorrangstellung (die der Erzähler
unter dem Publikum einnimmt) schützt ihn nicht vor der Macht dieses Künstlers. Letztlich ist es die Ganymed-Figur Marios, die standhält, durchaus auch im Sinne eines ästhetischen Prinzips. Mario
ist nicht der intellektuelle Antagonist Cipollas, sondern der ästhetische. Auch von seiner Physiognomie ist in nahezu erotischer Manier die Rede, als das Gegenteil von Cipolla:
"Stellen Sie ihn sich vor als einen untersetzt gebauten Jungen von zwanzig Jahren mit kurzgeschorenem Haar, niedriger Stirn und zu schweren Lidern über Augen, deren Farbe ein unbestimmtes Grau mit grünen und gelben Einschlägen war. (...) Das Obergesicht mit der eingedrückten Nase, die einen Sattel von Sommersprossen trug, trat zurück gegen das untere, von den dicken Lippen beherrschte, zwischen denen beim Sprechen die feuchten Zähne sichtbar wurden, und diese Wulstlippen verliehen zusammen mit der Verhülltheit der Augen seiner Physiognomie eine primitive Schwermut, (...) Von Brutalität des Ausdrucks konnte keine Rede sein; dem hätte schon die ungewöhnliche Schmalheit und Feinheit seiner Hände widersprochen, die selbst unter Südländern als nobel auffielen, und von denen man sich gern bedienen ließ." (7)
Thomas Mann: Felix Krull zu Besuch beim Zirkus Stoudebecker
Felix Krull fühlt sich von den Darbietungen der Artisten im Zirkus Stoudebecker stark angesprochen, weil er in ihnen Berufskollegen sieht. Sie gehören wie er zum "Fach der Wirkung, der Menschenbeglückung und -bezauberung" (8) Diese Erkenntnis hebt Krull innerlich von der Menge der Zuschauer ab. Zudem identifiziert er sich mit der Trapezkünstlerin Andromache, die nahezu geschlechts-neutral, jedenfalls weder eindeutig weiblich noch männlich beschrieben wird:
"Ihre Brust war
geringfügig, ihr Becken schmal, die Muskulatur ihrer Arme, wie sich versteht, stärker ausgebildet als sonst bei Frauen, und ihre greifenden Hände zwar nicht von männlicher Größe, aber doch auch nicht
klein genug, um die Frage ganz auszuschalten, ob sie, in Gottes Namen, denn vielleicht heimlich ein Jüngling sei" (9)
Völlig anders hingegen der Raubtierdresseur Mustafa, ein einwandfrei zu bestimmender Vertreter seines Geschlechts. Er nötigt den Tieren seinen Willen auf, er ist der Beherrscher. Der Vergleich
Mustafas mit dem Hypnotiseur Cipolla aus "Mario und der Zauberer" ist durchaus angebracht. Sowohl Cipolla als auch Mustafa sind geradezu Gegenentwürfe zu den idealisierten Figuren Mario und
Andromache. Beide stehen zu den jeweils nahezu geschlechtsneutralen Gegenspielern in einem angedeuteten erotischen Verhältnis: Cipolla küßt Mario; Mustafa wird als Liebhaber Andromaches
imaginiert. In beiden Fällen kommt das einem Verstoß gegen das ästhetische Empfinden des Beobachters gleich.
Diese Konstellation wiederholt sich im "Felix Krull" in der Beschreibung der Corrida. Einer der Stierkämpfer, Ribeiro, erregt besonders das Interesse Krulls:
"Schon bei der
Prozession war er mir aufgefallen, denn das Schöne und Elegante sondert mein Auge zugleich aus dem Gewöhnlichen aus. Achtzehn- oder neunzehnjährig, war dieser Ribeiro in der Tat bildhübsch. Unter
schwarzem Haar, das ihm glatt und ungescheitelt tief in die Brauen hing, trug er ein fein geschnittenes spanisches Gesicht zur Schau, das bei einem ganz leisen, vielleicht vom Beifall erzeugten,
vielleicht nur Todesverachtung und das Bewußtsein seines Könnens andeutenden Lächeln der Lippen mit stillem Ernst aus schmalen schwarzen Augen blickte." (10)
Kurzum, Ribeiro liefert die "eleganteste Art der Schlachtung" (11), woraufhin sich "alles Publikum wie ein Mann von den Plätzen" (12) erhob, um ihm Beifall zu spenden.
Zirkus ist für Mann
der Ort, an dem Eros und Tod ganz nah beieinander liegen. Es verbinden sich homoerotische Imaginationen mit despotischen, willensbrechenden Gestalten. Die Faszination beruht auf eben dieser Mischung.
Diese besondere Wahrnehmung gelingt aber nur dem, der sich den Artisten verwandt fühlt und in ihnen Künstler sieht.
Thomas Mann schrieb 1910 an Samuel Lublinski:
"Halten Sie die
Vereinigung von Frivolität und Moralismus für möglich, daß Einer in der Kunst ein erquickliches Blendwerk sehe, hervorzubringen mit den feinsten sinnlichen und intellektuellen Zaubermitteln - und
zugleich an künstlerischer Strenge und Gewissenhaftigkeit beinahe zu Grunde geht? Ich fange an, sie für möglich zu halten, - etwa so, wie ich die Vereinigung von Skepsis und Leidenschaft für möglich
halte. Ja, was ist die Kunst! Was ist der Künstler! Diese Mischung aus Lucifer und Clown (...)" (13)
Wie Hans Wysling nachgewiesen hat, übernahm Mann die Gleichsetzung von Künstler und Clown Nietzsches Ausführungen über die "Probleme des Schauspielers" aus "Die fröhliche Wissenschaft", von denen
er "aufs tiefste beeinflußt" (14) war:
"Das Problem des
Schauspielers hat mich am längsten beunruhigt; ich war im Ungewissen darüber (und bin es mitunter jetzt noch), ob man nicht erst von da aus dem gefährlichen Begriff 'Künstler' - einem mit
unverzeihlicher Gutmüthigkeit bisher behandelten Begriff - beikommen wird. Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten 'Charakter' bei
Seite schiebend, überfluthend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Überschuss von Anpassungsfähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr
im Dienste des nächsten engen Nutzens zu befriedigen wissen: Alles das ist vielleicht nicht nur der Schauspieler an sich?... Ein solcher Instinkt wird sich am leichtesten bei Familien des niederen
Volkes ausgebildet haben, die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzten mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer
neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten
und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt: bis zum Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht aufgespeicherte Vermögen herrisch, unvernünftig,
unbändig wird, als Instinkt andere Instinkte kommandieren lernt und den Schauspieler, den 'Künstler' erzeugt (den Possenreiter, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown zunächst, auch den classischen
Bedienten, den Gil Blas: denn in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar des 'Genies')."(15)
Dieses Zitat ist hier so ausführlich wiedergegeben, weil Nietzsches Charaterisierung des Künstlers fast nahtlos auf Krull zu übertragen ist, bis hin zu der Bemerkung, daß sich jener
kennzeichnende "Instinkt", "am leichtesten bei Familien des niederen Volkes" ausbildet. Krull selbst ist ja nach dem Bankrott des väterlichen Unternehmens am untersten Punkt der sozialen
Hierarchie angelangt. Und da wird dann seine Mimikry zum wichtigen Mittel des Überlebens.
"Krull sieht die Welt
als Theater und macht auch sein eigenes Leben zum Schauspiel" (16)
Dabei balanciert er stets auf dem schmalen Grat zwischen "Genialität und Kriminalität" (17). Der Vergleich mit den Artisten paßt
demzufolge ausgezeichnet zu Krull. (18)
© Urheberrechte liegen bei Peter W. Bernecker.
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(1) Vgl.
Einleitung zu Kap. "Ambivalenz des Clowns" dieser Arbeit
(2) Mann, Mario und der Zauberer, a.a.O., S. 186
(3) Mann, Mario und der Zauberer, a.a.O., S. 224 Das Schwanken zwischen abreisen wollen und doch bleiben ist in der Erzählung "Tod in Venedig" noch um ein
Vielfaches gesteigert. Die Widrigkeiten des Ortes üben auf Aschenbach eine eigentümliche Anziehungskraft aus. Ein Vorbote der Atmosphäre Venedigs, die Aschenbach erwartet, ist der
Fahrscheinverkäufer auf dem Schiff, das Aschenbach nach Venedig bringt: "In einer höhlenartigen, künstlich erleuchteten Koje des inneren Raumes (...) saß hinter einem Tische, den Hut schief in
der Stirn und einen Zigarettenstummel im Mundwinkel, ein ziegenbärtiger Mann von der Physiognomie eines altmodischen Zirkusdirektors (...)" (Mann, Der Tod in Venedig, a.a.O., S. 573 f.) Cipolla
ist von vergleichbarer Körperbeschaffenheit, "die Haartracht etwa eines altmodischen Zirkusdirektors". (Mann, Mario und der Zauberer, a.a.O., S. 208)
(4) Mann, Mario und der Zauberer, a.a.O., S. 222
(5) Mann, Mario und der Zauberer, a.a.O., S. 232
(6) "(..) so sehe ich es nicht gern, wenn man diese Erzählung als eine politische Satire betrachtet. Man weist ihr damit eine Sphäre zu, in der sie allenfalls mit
einem kleinen Teil ihres Wesens beheimatet ist. Ich will nicht leugnen, daß kleine politische Glanzlichter und Anspielungen aktueller Art darin angebracht sind, aber das Politische ist ein weiter
Begriff, der ohne scharfe Grenze ins Problem und Gebiet des Ethischen übergeht, und ich möchte die Bedeutung der kleinen Geschichte, vom Künstlerischen abgesehen, doch lieber im Ethischen als im
Politischen sehen." (Mann, Briefe, a.a.O., S. 315)
(7) Mann, Mario und der Zauberer, a.a.O., S. 233
(8) Mann, Felix Krull, a.a.O., S. 212
(9) Mann, Felix Krull, a.a.O., S. 207
(10) Mann, Felix Krull, a.a.O., S. 407
(11) Mann, Felix Krull, a.a.O., S. 409
(12) Mann, Felix Krull, a.a.O., S. 409 f.
(13) Mann, Briefe, a.a.O., Band III, S. 459
(14) Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, a.a.O., S. 22 f.
(15) Nietzsche, a.a.O., Band 3, S. 608 f.
(16) Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, a.a.O., S. 121
(17) So überschreibt Wysling ein Kapitel über die Herkunft des Hochstapler-Motivs. Vgl. Wysling, Narzißmus und illusionäre Existenzform, a.a.O., S. 25 ff.
(18) Wysling weist übrigens nach, daß sich Thomas Mann selbst gerne in der Rolle des Zirkusartisten sah: "Es bereitet ihm ein besonderes Vergnügen, als Hesse ihm
zur Zeit seiner ersten Europafahrt schreibt, er sehe ihm zu 'wie der Bürger im Circus dem Seiltänzer oder Athleten'. (Vgl. Mann in einem Brief an Otto Basler am 4. 6. 1947; zit. nach: Wysling,
Narzißmus und illusionäre Existenzform, a.a.O., S. 122)