Die Geschichte des Zirkus beginnt nicht mit einem fixen Datum,
sondern verschwindet rückblickend im Dunkel der Überlieferung. So steht es auch mit dem Auftauchen des Zirkus-Motivs in der Literatur. Römischer Circus, Fahrendes Volk und Gaukler waren schon immer
ein Thema der Literatur.(1)
Der Zirkus erfuhr einen grundlegenden Wandel, als er im 19. Jahrhundert zu einer festen Institution avancierte. In dieser Zeit taucht die Zirkuswelt vermehrt in Kunst und Literatur auf.
"In der kohlenschwarzen Atmosphäre einer in Industrialisierung begriffenen Gesellschaft bildeten die Zirkuswelt und der Jahrmarkt-Rummel eine wundersam schillernde Insel, ein unversehrt gebliebenes Stück Kinderland - ein Reich, in dem die schlichten Wunder der Geschicklichkeit oder des Mißgeschicks, Illusionen und die spontanen Regungen des Lebens vor dem von der täglichen Monotonie der Pflichtergebenheit ermatteten Zuschauer betörend durcheinanderwirbelten. Verglichen mit anderen Aspekten der Wirklichkeit schienen diese geradezu darauf zu warten, in bildnerischer oder dichterischer Form festgehalten zu werden."(2)
Neben dieser sozio-historischen Implikation macht Starobinski auch einen ästhetischen Aspekt für die Beschäftigung der Kunst mit dem Zirkus und seinen Artisten geltend:
"Zur Kritik der bürgerlichen Rechtschaffenheit kommt eine Selbstkritik hinzu, die sich gegen die ästhetische Berufung selber wendet. Wir können darin, über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren, einen typischen Wesenszug der 'Modernität' erkennen."(3)
Die Identifikation der Künstler mit dem Zirkuspersonal, vor allem mit dem Clown, erlaubt eine Kritik des künstlerischen Selbstverständnisses und baut gleichzeitig eine Art von Ersatzmythologie auf. Starobinskis Beobachtungen betreffen zunächst überwiegend die Kunst und Literatur des frankophonen Raums.
Mit dem Höhepunkt der circensischen Unterhaltungskunst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erlebte auch die Beschäftigung der deutschsprachigen Schriftsteller mit dem Zirkus einen
enormen Aufschwung. Allerdings verschiebt sich bemerkenswerterweise in diesem Zeitraum der Blickwinkel auf den Zirkus. Im Vordergrund der literarischen Beschäftigung stehen nicht die großen
Shows ("The greatest show on earth") mit ihren glanzvollen Nummern, sondern vielmehr die kleinen Zirkusunternehmen, einzelne Artistengruppen, oder einzelne, vom Erfolg verlassene Artisten.
Mit dem Aufstieg des Zirkus zum multimedialen Unterhaltungsgenre scheint das Besondere des Zirkus an den Rand gedrängt worden zu sein. Es entsteht der Eindruck, daß die großen Zirkusunternehmen
(Busch, Renz, Sarrasani u.a.) mit der Idee des Zirkus nichts mehr gemeinsam haben. Es ist die Zeit, da Zirkusdirektoren nicht nur Pferdekenner, Dompteure und/oder besondere Artisten waren,
sondern als clevere Geschäftsmänner untereinander konkurrierende Unternehmen zu leiten hatten. Mit berühmten Artisten im Programm buhlten sie um die Gunst des meist großstädtischen
Publikums.(4) Die Integration des Zirkus in die bürgerliche Lebens- und Kunstwelt hat den Blick der Schriftsteller für die ästhetische Grundidee des Zirkus geschärft. Während die
Zirkusse um die Mitte des 19. Jahrhunderts in erster Linie ein billiges Vergnügen für die nicht zahlungskräftige Schicht war, die sich Besuche in den städtischen Theater nicht leisten konnte und
daher zu den billigeren Vorführungen in den Zelten am Stadtrand ging, etablierte sich der Zirkus und das Varieté um die Jahrhundertwende als Bestandteil der großstädtischen Kultur. So versuchte
zum Beispiel ein Kreis von Schriftstellern um Otto Julius Bierbaum, die Literatur in das Varieté einzuführen. Bierbaum gab 1900 einen Band mit dem Titel "Deutsche Chansons" heraus, zu dem unter
anderen Wedekind und Dehmel Texte beisteuerten. In der Einleitung konstatiert Bierbaum, daß der Stadtmensch "Varieténerven"(5) habe, weil er sich nicht mehr für längere Zeit
konzentrieren könne und die ständige Abwechslung suche. Bierbaums Romanheld "Stilpe" propagiert die Gründung des "Literatur-Varieté-Theaters Momus":
"Wir werden eine neue Cultur herbeitanzen! Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären! Wir werden diese alberne Welt umschmeißen! Das Unanständige werden wir zum einzig Anständigen krönen!"(6)
Hier geht es aber weniger um Zirkus und Artisten, sondern mehr um Satire, formuliert an für die Literatur seinerzeit ungewöhlichen Orten.
"Die Grenzen vom Varieté zum Kabarett sind in jener Zeit fließend. Gemeinsam ist beiden das Chanson, das gepfefferte, gesungene Gedicht, das ebenso gepfeffert vorgetragen wird. Dazu kommt häufig der Tanz, während die Artistik zurückzutreten scheint." (7)
Dieses Literaturgenre soll in dieser Arbeit nicht untersucht
werden. Das Varieté findet nur insoweit Berücksichtigung, wie die dort auftretenden Artisten motivisch in der Literatur wiederkehren.
Neben dem Zirkus im Zelt gab es zunehmend auch feste Zirkusbauten in fast allen europäischen Großstädten. Während dieser Blütezeit der Zirkusse mit den großen Erfolgen der Artisten gegen Ende des
19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erscheint in der Literatur ein der damaligen Realität fast entgegengesetztes Bild vom Artisten. Das ästhetische Ideal des Zirkus, die Welt der
"Vogelfreien" (8) und des schönen Scheins, hat sich von der Realität stark entfernt. Der Zirkus selbst verwischt die Grenzen zwischen Romantik und
Wirklichkeit. (9) Die Schriftsteller haben dies fast alle - wenn auch in unterschiedlicher Weise - registriert und dargestellt.
Ein besonderes Merkmal des Zirkus ist die Ästhetisierung von Gewalt: Die Gewalt der Artisten gegen ihren eigenen Körper, die Gewalt in Form der Unterwerfung von Tieren in der Dressur, die
Verschleppung von Mensch und Tier in die europäischen Völkerschauen (10) sowie die Gewalt dem Publikum gegenüber, das den dargebotenen Illusionen distanzlos ausgeliefert wird,
wie beispielsweise bei Hypnotiseuren und anderen Zauberkünstlern. Der Aspekt der Gewalt wird in der Regel durch die arabeske Einkleidung der Darbietung eskamotiert und durch das Korrelat Clown
kompensiert. Der Clown ist im modernen Zirkus zu einem unverzichtbaren Bestandteil geworden. Gewissermaßen als Kontrapunkt erlöst er den Zuschauer von der Darstellung permanenter Überlegenheit
des Körpers über den Geist.
Die Anordnung der Texte erfolgte grob chronologisch. Gleichzeitig wurden die Texte thematisch in einzelne Kapitel gruppiert. Dabei konnte die Chronologie nicht immer gewahrt werden, was
allerdings insofern keinen Mangel darstellt, da die Rezeption, die unter den Autoren zum Teil durchaus stattgefunden hat, sich an chronologische Indizien nicht hält.
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(1) Vgl. Gobbers, Artisten, a.a.O., passim. Gobbers verweist in seiner historischen Darstellung auf literarische Zeugnisse bei den Griechen Xenophon, Alkriphon, Chrysostomos, Plutarch, den Römern Ovid, Seneca, Calpurnius u. a., die zum Teil über kleine Artistengruppen berichteten oder über den römischen Circus Maximus.
(2) Starobinski, Portrait des Künstlers als Gaukler, a.a.O., S. 9 f.
(3) ebda., S. 11
(4) Vgl. dazu die Darstellungen bspw. bei Gobbers, Artisten a.a.O., S. 55 ff. (Kap. "Altmeister Renz. Aufstieg, Glanz und Ende des Zirkus Renz"), bei Bose/Brinkmann, a.a.O., S. 105 ff. (Kap. "Deutscher Zirkus"), bei Günther/Winkler, Zirkusgeschichte, a.a.O.
(5) Bierbaum, Deutsche Chansons, a.a.O., S. XI
(6) Bierbaum, Stilpe, a.a.O., S. 359
(7) Schmähling, Das Varieté und die Groteske, a.a.O., S.48
(8) So bezeichnet Richard Dehmel in "Zwei Menschen", einem "Roman in Romanzen", die Artisten, welche von dem umherschweifenden Paar wegen ihrer Todesverachtung idealisiert werden. Dehmel, Ges. Werke, a.a.O., S. 145
(9) "Denn romantisch ist der Zirkus nur für den, der ihn von außen sieht, - dessen Augen sich blenden lassen (..) Für alle die, die sich dem Zirkus verschrieben haben, vom Direktor über den Artisten bis zum Stalldiener und zur Platzanweiserin, bedeutet der Zirkus aber unerbittliche Wirklichkeit, Daseinskampf und vor allem Arbeit. Arbeit und immer wieder Arbeit. Der Artist sagt nicht, daß er auftritt oder etwas vorführt, nein er 'arbeitet'" (Lehmann, Unsterblicher Zirkus, a.a.O., S. 9 f.)
(10) Vgl. Bose/Brinkmann, Circus. Geschichte und Ästhetik ..., a.a.O., S. 136 ff. Berichtet wird u.a. vom Selbstmord eines Indianer-Häuptlings, der von Stosch-Sarrasani für 10 000 Goldmark Kaution von der USA-Regierung ausgeliehen wurde und sich 1914 in Dresden das Leben nahm.